Die erste Kerze brennt (mit Mia)

Mia hat angerufen. Ob ich einen Baum mache, hat sie gefragt.

„Du machst keinen Baum?“

„Nein, Mia.“

„Hast du einen Adventskranz?“

„Nein, aber ich hab heute meine Fensterbänke adventlich geschmückt.“

„Bei mir wird alles lila dieses Jahr. Ich habe die Kiste aus den Neunzigern aus dem Keller geholt. Meine Neunziger waren lila. Ich war sicher, sie wären grün gewesen, aber gut, nun wird es eben lila. Wie wird es bei dir?“

„Wie früher“, wollte ich sagen. Hab dann aber einfach „rot“ gesagt, weil mir auffiel, dass „wie früher“ die Frage nach sich ziehen könnte, welches „früher“ ich meine. Die Kindheit? Die Neunziger? Die zweitausender Jahre? Oder „wie früher“, als ich noch nicht alleine lebte?

Die wenigen Weihnachtsseligkeiten auf meiner Fensterbank sind zusammengewürfelt. Sie haben nicht viel miteinander zu tun, außer, dass jedes aus einem Grund dort steht, der nichts mit Dekorationskompetenz, wohl aber mit Menschen und anderen Zeiten zu tun hat. Zum Beispiel der elektrische Kerzenlichterbogen am Fenster, der nicht etwa eines dieser kunstvollen Stücke aus dem Erzgebirge ist, sondern vermutlich ein profanes Kaufhausteil. Aber er stand ab irgendeinem Jahr auf der großen, langen Fensterbank im Wohnzimmer meiner Eltern und läutete dort mit ein paar wenigen, anderen Dingen den Advent ein. Und das mochte ich. So, wie ich bis heute mag, wie sehr meine Mutter das mochte.

Bevor ich den Bogen aufstellte, putzte ich die Fenster. Der rauchende Student auf dem Balkon gegenüber sah herüber. Mir wären mit Anfang zwanzig fensterputzende Nachbarn am Sonntag suspekt gewesen. Ich versuchte seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Da lächelte er und hob die Hand kurz zum Gruß. Rief „Moin“ und ich „Moin“ zurück.

Nachdem ich die Fenster wieder geschlossen und mit der Suche nach Teelichtern begonnen hatte, ertappte ich mich beim Summen von Adventsliedern. „Wir sagen euch an, den lieben Advent, sehet die erste Kerze brennt …“, hätte ich aus meinem Gedächtnis gelöscht vermutet. Aber es war noch da. Jedenfalls die erste Strophe und der Refrain.

Ich kochte Pellkartoffeln und einen Malzkaffee, klopfte einen kleinen Nagel in die Wand überm Fenster, um einen Glasstern aufzuhängen. Ich summte, ich staubsaugte, ich schüttelte die Sofadecke aus. Dann zündete ich die dicke, rote Naturwachskerze an, die ich vorgestern gekauft hatte, blickte auf die roten Stricksocken an meinen Füßen und wünschte mir einen frohen Advent.

Als das Telefon erneut klingelte, wartete ich ein wenig, bevor ich abhob.

„Das lila ist schrecklich! Was immer mich in den Neunzigern geritten hat, ich kann das unmöglich benutzen.“

„Und nun?“

„Hab ich alles weggeräumt und nach den Kisten mit den grünen Kugeln gesucht.“

„Hast du sie gefunden?“

„Nein.“

„Und nun?“

„Habe ich den dicken Engel, den Margret mir letztes Jahr geschenkt auf die Anrichte gestellt.“

„Ist der grün?“

„Nein. Aber er ist ein Anfang.“

KLICK.

Gefaltet

Das Rollo ist runtergefallen. Doch statt halb aufgelöst und zerknittert auf dem Boden zu kauern, liegt es ganz kerzengerade dort, artig wie ein ertappter Hund. Dass die Klebeaufhängung nicht halten würde, war klar. Sagte natürlich nicht ich, sondern mein nachbarschaftlicher Rollosachverständiger.

Jetzt liegt das Rollo auf der Heizung und wartet. Ich suche die Klemmhalter. Finde Erstaunliches. Viele Kabel, die ich nicht kenne, obwohl ich sie einmal gekannt haben muss. Ein länger vermisstes Brotmesser, das bei meinen Schraubenzieher Unterschlupf gefunden hat. Genau, ich habe einen Schraubenzieher. Und einen Hammer. Und irre viele Schrauben. Lauter Schrauben, für die man einen Kreuzschraubenzieher braucht. Den habe ich wiederum nicht. Meiner kann nur normal.

Nirgends die Klemmhalter. Ich kann mich einfach nicht erinnern, ob ich sie aufgehoben oder weggeworfen hab. Sowas wirft man doch nicht weg, sagte meine freundschaftliche Rollonichtsachverständige. Ich schon.

Bügeln ist gut gegen Unmut. Und Klemmfindungsfrust. Wenn ich Stoff glattstreiche und gewärmter Waschmittelduft zu meinen Flimmerhärchen emporsteigt, empfinde ich Ruhe. Als Kind hab ich gerne gemangelt. Meine Mutter fand das ein wenig gut und auch ein wenig anstrengend, weil meine Mangelruhe stets die Gefahr in sich barg, dass ich mir die Finger verbrenne. Ob es noch Menschen gibt, die eine Heißmangel ihr Eigen nennen?  Die Freude haben am sanften Gegenziehen und akribisch gelegten Kanten?

„Falten Sie ihr bitte nicht die Hände“ hat gestern ein Ehemann zu mir gesagt. Sie hält jetzt, aufgeschlagen, ihr Lieblingsbuch.

Woran man so denkt, am Abend.

Warnzeichen

Spürbar
durch den Zug des Rauches.
Blätter und Fahnen,
wie Zweige bewegt,
neben gestreckten Wimpeln,
tanzen Staub und Papier
auf den Straßen.
Pfeifen die Telegrafenleitungen
deiner fühlbaren Hemmung
beim Gehen hinterher.
Vor bewegten Bäumen
heben sich die Rauchhauben,
fallen die großen Äste,
brechen die Stämme,
entwurzeln sich selbst Große
ganz leicht.
Schwer verwüstet wirkt
die Welt
im senkrecht aufsteigenden Rauch
plötzlicher Windstille.

2022 strang

Wie man sieht, steckt selbst in der Windwarnskala lyrisches Potenzial. 🙂 Fotoquelle: https://www.wettergefahren.de/warnungen/windwarnskala.html

Nahmoment

Sie hat ihm dem Rücken zugewandt. Steht dicht, aber nicht angelehnt. Ihr sehr kurzes, dachsgraues Haar zeigt in sanften Wellen, dass es lockig wäre, hätte es mehr als diese zwei Zentimeter Länge. Kleine Ohren, robust und fleischig wie die ganze Frau. Ihre Brillengläser sind kaum größer als die Augen, randlos oval. Hände, die Papier mit Bastelscheren akkurat zerteilen können, die sommers in Beeren greifen, die auf Kinderköpfen Strähnen zerzausen, die mit Bleistift Listen führen. Ein Daumennagel ist verkümmert. Der Ehering ein dünner Platinstreif.

ER ist eineinhalb Köpfe größer als sie. Weißes Haar mit Scheitel. Die tiefen Zornesfalten bleiben selbst im Schlaf. Seine Hände ruhen in den Anoraktaschen, manchmal gleicht er mit den Knien die Zugbewegungen aus. Er schaut auf die Bildschirme, er schaut aus dem Fenster, er schaut auf den Obdachlosen, der uns erzählt, warum er auf der Straße lebt. Er gibt ihm keinen Euro. Diesmal nicht. Er legt seiner Frau die Hand auf den Arm. Sie zieht eine Münze aus der Tasche, aber da ist der Obdachlose schon weg.

Ich stehe gegenüber und betrachte das gewachsene Beieinander. So zu stehen, denk ich. Eins aus zwei Körpern ungekuschelt nah. Die Liebe im Nacken. Die Türen gehen auf, ich steige aus. Zwei Stationen zu früh. In mein Nichts.

Herbst ist

Herbst ist
 
ein ausgesprochnes Seufzen.
 Das Kupfer klettert in die Kronen,
 an beigen Wegen welkt der Mohn.
 Und als hätten wir Zeit,
 verlangsamen wir
 den Fluss der Fragen,
 schieben raschelnd die Füße
 durch die lautlos gefallenen Sätze.
 Bunt und bang bleibt das Herz,
 sonst nichts.

(c)2021