Altona

Die große, blonde Frau, mit dem fast perückenhaft dichten, überschulterlangen Schopf blieb abrupt im Eingangsbereich des Drogeriemarkts stehen, schob die nach vorn gerutschte Sonnenbrille weiter zurück ins Haar und blickte angestrengt auf ihr Handydisplay. Ihr Stehenbleiben stoppte auch mich, die ich just hatte eintreten wollen, aber an der Frau mit wegstehender, prall gefüllter Umhängetasche gab es kein Vorbeikommen.

Ende fünfzig mochte sie sein, mit frischer Toffifeebräune und lachsfarbenen Fingernägeln. Das Kleid in leuchtendem Aquamarin, wadenlang, v-dekolletiert und zu meiner Irritation mindestens eine Nummer zu klein, so dass sich jedes Detail ihres vielformigen Körpers inklusive der Unterwäsche außerordentlich abzeichnete. Es irritierte mich deshalb, weil nichts an dieser Frau zufällig war. In den Ohrringen wiederholte sich der Aquamarinton des Kleides ebenso wie in ihren Augen und dem offensichtlich edelmetallbasierten Ring an ihrem linken kleinen Finger. Die Haare hatten glätteisengeformte Wellen, die Füße steckten in sommerlichen weißen Leinen-Peeptoes mit Korkblockabsatz. Alles saß. Das Kleid jedoch nicht im geringsten.

„Bist du das, Klaus?“ Sie hielt das Handy nunmehr butterbrotgleich auf Mundhöhe und blinzelte ins Gegenlicht der Frühabendsonne. Während sich andere Kunden vorbei an der rege mit Klaus sprechenden Dame schlängelten, was diese mit einem Linksschritt aufmerksam erleichterte, stand ich weiter vor dem Geschäft und schaute auf die Aquamarinsilouhette, die sich auf Zwerchfellhöhe bei jedem Satz erst einzog und dann ausdehnte. Dann schwieg sie und nickte und nickte und nickte.

Endlich wurde mir die Penetranz meines unverblümten Glotzens bewusst, aber so langsam, dass ich den Eindruck hatte, der Bewegungsbefehl meines Gehirns an meine Füße vollzöge sich mechanisch und in Slow Motion. Noch bevor ich ein Bein Richtung Eingang überhaupt in Gang brachte, ließ mich eine andere Stimme (ganz nah hinter mir) erneut innehalten. Die Stimme eines Mannes, eines jungen Mannes oder stimmlich jung gebliebenen Mannes, die in der allgemeinen Geräuschkulisse mit Innigkeit Raum einnahm.

„Ich liebe dich! Ich liebe dich, wie ich überhaupt noch keine Frau geliebt habe und das meine ich ernst“, hörte ich ihn sprechen, bar jeden Zweifels er könne es nicht ernst meinen, denn in seinen Worten klebte kein Pathos, keine Übertreibung, auch keine flehende Bittstellerhaltung, sie waren pure Aufrichtigkeit, regelrecht nackt, so dass ich unwillkürlich die Augen schloss.

Sprach er in ein Handy? In ein Gesicht? Ich lauschte in die eingetretene Stille, die gar nicht still war, weil um uns herum Menschen hasteten, Busse brummten, Autos fuhren, Fahrradfahrer zischten und Klaus in der blonden Leitung blubberte.

Ich lauschte und hoffte auf ein weiteres Wort. Eins von ihm oder eins von ihr, ganz egal. Eins, das mich die Augen wieder öffnen ließe, obwohl ich sie lieber nicht wieder öffnen wollte. Viel lieber wollte ich zwischen den nackten Worten stehen, zwei bis fünf Momente lang. Die kleine Gänsehaut auf meinen Armen genießen, dem alten Schmerz eine halbe Träne gönnen und im besten Fall das schiere Seufzen eines Kusses hören, dessen Schönheit in seiner Nebesächlichkeit läge.

„Pardon“, kommentierte die große, blonde Frau ihre Berührung meiner Schulter, „darf ich mal?“ Sie schob sich rechts an mir vorbei. Den notwendigen Schritt zur Seite ließ ich suchenden Blicks zur Drehung werden. Doch nichts.

Die Liebe war längst im Gewoge verschwunden.

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