Papa

Beim ersten Gespräch sagten sie kaum ein Wort. Hörten zu. Hielten die Teetasse in der Hand, legten die Handflächen um die Tischkante, machten sich gerade entlang der Stuhllehnen. Nicken oder Kopfschütteln auf meine Fragen. Gibt es ein Familiengrab? Möchten Sie den Vater noch einmal sehen? Möchten Sie Trauerkarten? Eine Trauerfeier? Möchten Sie das Abschiedshaus anschauen? Den Pappelholzsarg anschauen?

Nach nur fünfunddreißig Minuten verabschiedeten wir uns. Keine Fragen. Sie gingen. Zu meiner Bürokollegin sagte ich danach „Ich bin unsicher, ob sie bleiben.“ Aber schon eine Stunde später klingelte das Telefon. „Wir möchten, dass Sie unseren Vater bestatten und kommen dann morgen zum Termin.“

Drei Männer. Drei Brüder. Drillinge.

„Das war selten damals“, sagt Heiko. Es ist einer der wenigen persönlichen Sätze. Heiko kam als erster zur Welt. Er soll unterschreiben meinen die Brüder Harald und Holger. Sie sagen es nicht, sie schauen ihn nur an. Er schaut mich an.

Ich reiche ihm die Papiere. Sterbefallanzeige. Antrag auf Kremation. Auftragserteilung. Datenschutzerklärung.

Harald wurde als letzter geboren. Er ist der schmalste von den Dreien. Alle haben das gleiche silbergrau auf dem Kopf, buschige Augenbrauen über fast schwarzen Augen. Die Hände derb mit stumpfen Nägeln. Das Leben hat in jedem der anscheinend gleichen Gesichter andere Nuancen hinterlassen. Heikos Lippen sind gleichmäßig und weich mit kummerfreien Winkeln. Holgers Mund wirkt gepresst, selbst wenn er ihn zum Trinken öffnet. Das Lippenrot ist nicht breiter als eine Textmarkerlinie. Haralds Unterlippe muss einmal genäht worden sein. Die Narbe zieht sich bis in die Mitte des Kinns.

Holger holt einen Ordner aus einem Leinenbeutel. Klappt ihn auf und zieht eine beglaubigte Abschrift aus dem Familienbuch heraus. Ich schaue auf das Datum der Eheschließung. Juni 1967.

„Sie kannten sich noch gar nicht lang. Dann haben wir uns direkt angekündigt. Naja, anfangs dachten sie ja, da kommt ein Kind. Dann waren es drei“, sagt Holger, als müsse er etwas erklären. Bevor ich eine Frage zur Mutter stellen kann, zieht er deren Sterbeurkunde aus dem Ordner. Oktober 1974.

„Er hat nicht nochmal geheiratet. Hat das alles allein gemacht“, setzt Holger nach.

Sie geben mir Personalausweis und Rentennummer. Haben schon Kleidung mitgebracht. Und Rasierzeug: Dachshaarpinsel und Rasierseifentube, ein Rasierer mit Holzgriff und hochprozentiges After Shave.

Ich muss lächeln. „Können Sie denn damit umgehen?“, fragt Harald.

„Ja“, sage ich, „das ist mir richtig vertraut. Hab immer zugeschaut, wenn mein Vater seine Rasierseife aufgeschlagen und sich dann mit dem Pinsel eingeschäumt hat. Ich saß dabei auf dem Badewannenrand. Mochte den Rasierschaumduft.“

Die Drillinge nicken. Sie mochten es offensichtlich auch.

Einen Tag später kommen sie an den offenen Sarg. Zwei Stunden sitzen sie, einer links, zwei rechts, neben dem Toten, der sich geschmeidig rasieren, aber nicht die Hände falten ließ.

Bevor sie gehen frage ich, ob wir gemeinsam den Sarg schließen wollen. Sie nicken. Wir nehmen das Oberteil und heben es hoch. Im Licht der Kerzen sehe ich, kurz bevor der Sargdeckel schließt, ein Foto auf der Brust des Toten. Ein großer Mann und drei Jungs. Ein Weihnachtsbaum und vier Lächeln. Unter dem Foto drei Briefumschläge.

Auf jedem steht in einer anderen Schrift: Für Papa.

7 Antworten auf „Papa“

  1. Meine Güte, wie gut, dass du diesen Job machst! Sitze hier und habe gerade zwei Berührt-Tränen in den Augen…

  2. Liebe Bettina, mach – bitte, bitte – aus diesen Begegnungen ein Buch. Ich habe, wie auch schon bei FB geschrieben, noch nie jemanden auf so versöhnlich stimmende Weise über den Tod sprechen/schreiben sehen. Und ich danke dir von Herzen dafür. <3

  3. Liebe Bettina, bis morgen müsste ich eine Abschiedsrede fertig geschrieben haben. Aber ich bin so durch und durch selber traurig. Tom ist tot, einfach so. Geschäftsreise. Herzinfarkt. Alter Freund in neuer Urne. Und auf der Suche nach Farbe in meinen Worten fällt mir „Dienstag mit Taube“ aus meinem Bücherregal ins Auge. Und dann eine kleine Reise auf deine Website und dann auf dem Blog und dann auf diese Geschichte, die mich so berührt. Berührung ist super, wenn es keinen Trost gibt. Ich glaub, ich mach mir einen Kaffee und es darf weitergehen. Vielen, vielen Dank für deine Worte, deine große Kunst, so zu berühren!
    Birgit

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