Papa

Beim ersten Gespräch sagten sie kaum ein Wort. Hörten zu. Hielten die Teetasse in der Hand, legten die Handflächen um die Tischkante, machten sich gerade entlang der Stuhllehnen. Nicken oder Kopfschütteln auf meine Fragen. Gibt es ein Familiengrab? Möchten Sie den Vater noch einmal sehen? Möchten Sie Trauerkarten? Eine Trauerfeier? Möchten Sie das Abschiedshaus anschauen? Den Pappelholzsarg anschauen?

Nach nur fünfunddreißig Minuten verabschiedeten wir uns. Keine Fragen. Sie gingen. Zu meiner Bürokollegin sagte ich danach „Ich bin unsicher, ob sie bleiben.“ Aber schon eine Stunde später klingelte das Telefon. „Wir möchten, dass Sie unseren Vater bestatten und kommen dann morgen zum Termin.“

Drei Männer. Drei Brüder. Drillinge.

„Das war selten damals“, sagt Heiko. Es ist einer der wenigen persönlichen Sätze. Heiko kam als erster zur Welt. Er soll unterschreiben meinen die Brüder Harald und Holger. Sie sagen es nicht, sie schauen ihn nur an. Er schaut mich an.

„Papa“ weiterlesen

Tag ohne ein Wort

Sommerregen. Sein süßer Duft passt zu den Maserungen aus Blütenstaubzuckerguss auf dem Lack all der unbedeutend grauen Autos unter meinem Balkon. Heute früh bin ich nach Altona gefahren. Stand im Bus. Klebrig auch ohne Regen.

Ich hatte erst ein Kleid angezogen. Dann einen Rock mit Top. Schließlich eine ¾-Jeans und ein Shirt. Es war bewölkt, die Morgenluft sommerfrei. Wie gleich wir alle aussehen, dachte ich im Bus. Shirts und Hosen, wahlweise zu eng oder zu weit. Jedenfalls niemand bemerkenswert, auch nicht im Gesicht. Wie trostlos wir dreinblicken. Im Sommer. Im Überfluss. Wenn wir doch ohnehin alle so fades Zeug tragen, wozu dann der Überfluss? Ich ließ mich lächeln ohne Not, ohne Überzeugung. Vielleicht nur, um eine Sekunde anders zu sein. Lächerlich.

Kaum am Busbahnhof angekommen, bereute ich die Zielwahl. Was mir gestern, als ich mit einem guten Freund zur Tea-Time verabredet gewesen war, noch bunt und illuster erschienen war, präsentierte sich jetzt wuselig, laut und voll. Too much. Geht weg. Me too.

Ich lief los. Ottenser Hauptstraße. Tangoklänge, plötzlich. Tanzende Paare. Ich habe keine Ahnung von Tango. Manche wirkten „fortgeschritten“, andere übend, alle aber schön. So schön. Weil innig. Fließend. Natürlich blickten viele zu ihnen, nicht nur ich. Und überall das Lächeln in den blickenden Gesichtern. Und wie schön die Tangomenschen waren. In ihrer Haltung, ihrer Freude. Der Versunkenheit. Egal, ob gut oder weniger. Ich wollte weinen und weinte. Ach nein, das klingt eruptiv. Es war still, nur ein Kullern aus dem unbelebten Herz. Die Sonne brach durch die Wolken und ich hasste die Jeans und das Shirt und das Fehlen von.

Ging weiter. Blickte in Schaufenster. So viel Schönes. Unnützes. Ich nahm mir vor mich zu beschenken. Griff in Stoffe. Berührte Gold und Silber. Je mehr ich sah, desto weniger wollte ich. Dachte an den Tango. Die schönen Menschen. Schön, weil sie so viel Freude hatten. Wie bringt man Freude in einen Bus?  Wie tanzt man Tango oder Flamenco? Ich wollte nach Hause und ging.

Wieder der Bus. Die klebrige Luft. Polyester as usual. Das Leben ist wunderschön. Selbst dann, wenn man nur daneben steht. Ich drehte die Musik lauter in meinem Ohr. Machte mich schmaler für die Einsteigenden. Und bereit für den Tag ohne ein Wort.Ohnew

Für den Fall

Seit Tagen wasche ich den Traum
mit verlorenen Farben aus,
drehe die Uhren auf eins
zurück.
Wenn ich etwas wünschen dürfte,
ich bliebe in den Baumkronen,
säße zwischen den Reisigbetten verborgen
und sammelte das Flüstern der bunten Federn
für den Ernstfall.
Wie einst dein Wort.

Gefaltet

Das Rollo ist runtergefallen. Doch statt halb aufgelöst und zerknittert auf dem Boden zu kauern, liegt es ganz kerzengerade dort, artig wie ein ertappter Hund. Dass die Klebeaufhängung nicht halten würde, war klar. Sagte natürlich nicht ich, sondern mein nachbarschaftlicher Rollosachverständiger.

Jetzt liegt das Rollo auf der Heizung und wartet. Ich suche die Klemmhalter. Finde Erstaunliches. Viele Kabel, die ich nicht kenne, obwohl ich sie einmal gekannt haben muss. Ein länger vermisstes Brotmesser, das bei meinen Schraubenzieher Unterschlupf gefunden hat. Genau, ich habe einen Schraubenzieher. Und einen Hammer. Und irre viele Schrauben. Lauter Schrauben, für die man einen Kreuzschraubenzieher braucht. Den habe ich wiederum nicht. Meiner kann nur normal.

Nirgends die Klemmhalter. Ich kann mich einfach nicht erinnern, ob ich sie aufgehoben oder weggeworfen hab. Sowas wirft man doch nicht weg, sagte meine freundschaftliche Rollonichtsachverständige. Ich schon.

Bügeln ist gut gegen Unmut. Und Klemmfindungsfrust. Wenn ich Stoff glattstreiche und gewärmter Waschmittelduft zu meinen Flimmerhärchen emporsteigt, empfinde ich Ruhe. Als Kind hab ich gerne gemangelt. Meine Mutter fand das ein wenig gut und auch ein wenig anstrengend, weil meine Mangelruhe stets die Gefahr in sich barg, dass ich mir die Finger verbrenne. Ob es noch Menschen gibt, die eine Heißmangel ihr Eigen nennen?  Die Freude haben am sanften Gegenziehen und akribisch gelegten Kanten?

„Falten Sie ihr bitte nicht die Hände“ hat gestern ein Ehemann zu mir gesagt. Sie hält jetzt, aufgeschlagen, ihr Lieblingsbuch.

Woran man so denkt, am Abend.

Warnzeichen

Spürbar
durch den Zug des Rauches.
Blätter und Fahnen,
wie Zweige bewegt,
neben gestreckten Wimpeln,
tanzen Staub und Papier
auf den Straßen.
Pfeifen die Telegrafenleitungen
deiner fühlbaren Hemmung
beim Gehen hinterher.
Vor bewegten Bäumen
heben sich die Rauchhauben,
fallen die großen Äste,
brechen die Stämme,
entwurzeln sich selbst Große
ganz leicht.
Schwer verwüstet wirkt
die Welt
im senkrecht aufsteigenden Rauch
plötzlicher Windstille.

2022 strang

Wie man sieht, steckt selbst in der Windwarnskala lyrisches Potenzial. 🙂 Fotoquelle: https://www.wettergefahren.de/warnungen/windwarnskala.html