Zigarettenmoment

Die Bistrotische sind entlang der Fenster gereiht. Drinnen schafft ein weiches, gelbes Licht behagliche Atmosphäre. Draußen glühen die Heizstrahler unter der Markise, um die kühle Herbstabendluft zu mildern. Am ersten Bistrotisch sitzt ein Mann, kompakt gebaut und schwarz eingehüllt in Sakko, Schal und Stoffhosen. Sein Haar ist sehr grau und sehr kurz, die Nase rund gewölbt wie der Bauch. Vor ihm auf dem Tisch dampft ein Tee, eine Zigarette und ein Rotwein atmet sich aus. Der Mann ist angeregt ins Gespräch vertieft mit der Frau am Tisch daneben. Sie hat den gleichen Haarton wie er, ihre Locken kringeln sich wie ineinander verschlungene Blumenblüten über den Ohren und bedecken das Ende der breiten, schwarzen Brillenbügel. Jetzt erst fällt mir auf: Der Mann und die Frau, sie haben die gleiche Brille. Rund, schwarz, dickrandig. Die Art wie sie miteinander reden deutet darauf hin, dass sie sich kennen. Er zieht an seiner Zigarette. Ich möchte das auch.

Kurz überlege ich, ob ich schnorre. So wie früher, mit 18 auf dem Schulhof. Dabei rauche ich seit neun Jahren nicht mehr. Die Frau raucht die gleiche Marke wie der Mann. Die sind ein Paar, denke ich jetzt, und mein verlangsamtes Schritttempo wird noch langsamer. Nicht vorbei gehen. Bloß nicht! Es sieht so unglaublich gemütlich aus! Die Brillen, der Rotwein, die Gauloises, das Heizstrahlerlicht. Ich möchte eine Zigarette. Jetzt. Aber inzwischen bin ich schon an der Ampel. Möchte ich wirklich eine Zigarette? Oder möchte ich nur diese Gemütlichkeit unter dem Heizstrahlerlicht? Die ich, ich weiß es jetzt schon, gar nicht so gemütlich finden werde, wenn ich dort sitze. Denn die Kälte kriecht über die Knöchel unter den Hosenbeinsaum, während oben mein Scheitel verbrennt und die Mitte meines Körpers nicht recht weiß, in welchen Temperaturausgleichsmodus sie sich nun einregulieren soll. Ich drehe an der Ampel um und gehe zurück zu den Bistrotischen. Wähle den einen, der mehr an der Ecke ist. Von dort aus sehe ich gut. Zu den anderen Tischen und auf den Weg. Ich komme mir vor, als habe ich einen Heizstrahler geschnorrt. Bestelle einen Tee, einen Rotwein und keine Zigaretten. Nehme die dünne Fleece-Decke vom Nebenstuhl und will sie mir um die klammen Beine Wickeln. Der Scheitel brennt.

„Sylt! Strandpromenade Westerland! Sie haben einen Rosé getrunken und den Kellner gefragt, ob Sie irgendwo ihr Handy aufladen dürfen!“
Ich wickle nicht und blicke hoch, zum Auslöser des kurzen Schattens auf meinem Tee, der bereits im Begriff ist Platz zu nehmen. Am Bistrotisch neben mir. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass das Schwarzbrillenpaar zu uns herüber blickt.
„Ja, ja, das stimmt. Im Sommer war das.“
„Ja, im Sommer war das. Sie haben den kleinen Tisch an der Ecke gewählt, von wo aus man auf das Meer UND den Weg schauen konnte.“
„Seien Sie mir nicht böse, aber ich erinnere mich in keiner Weise an Sie.“
„Ach, ich hätte Sie auch nicht unbedingt wieder erkannt. Ihr Schopf jedoch glüht noch roter unter dem Heizstrahler. Da guckt man zweimal. Und dann fiel es mir sofort ein.“
Der Mann, der keinen Schatten mehr auf meinen Tee wirft, ist vielleicht 55 oder 60 Jahre alt. Jugendlicher in der Gestik. Mit freundlichen Augen. Jeans. Langarmshirt mit kleinem V-Ausschnitt. Was oft seltsam wirkt. Bei ihm aber nicht. Seine Stimme erinnert mich an Han Solo. Ich mag sofort, dass er als erstes auf die Rosmarinzweige in der schmalen Vase guckt, sich vorbeugt, schnuppert und „Oh, völlig echt!“ sagt.
Mein Scheitel brennt. Ich wickle endlich die Decke um die Beine.
Das Schwarzbrillenpaar lacht laut und schön. Ich hätte eine Zigarette schnorren sollen. Stattdessen sitze ich eingeklemmt zwischen den frohen Grauhaarigen und dem Syltmann; merke, dass ich gar keine Lust auf Tee habe. Der Herbst macht mich traurig, plötzlich.
„Sie hatten ja auch nur Augen für das Meer. Ich saß auf der anderen Seite. Mit drei Freunden. Wir sehen alle gleich aus. Um uns wiederzuerkennen braucht man mehr als einen Heizstrahler.“ Sein Lachen wirkt. Ich lächle.

„Die Welt ist ein Dorf. Hamburg sowieso. Da sitzen Sie also hier. Heute Rotwein. Kein Rosé. Sind Sie aus Eimsbüttel?“
Die Kellnerin taucht auf, behütet mich vor einer Antwort, indem sie ihm die Karte reicht: „Möchten Sie essen?“
Er sieht auf die Karte, dann auf mich. „Möchte ich essen? Ich hab keinen Hunger, aber stets Appetit…möchten Sie essen?“ Er reicht mir die Karte.
„Nein. Wirklich nicht.“
„Nein, wir möchten nichts essen. Bringen Sie mir einfach ein Bier.“
Ein Bier also. Wir möchten nichts essen. Vielleicht hat er eine Zigarette. Er sieht nicht danach aus.
Ich weiß nicht wohin ich gucken soll.
„Wahrscheinlich wollten Sie nur hier sitzen, nicht wahr? Das war gar nicht meine Absicht zu stören. Ich störe nicht. Wirklich. Schon auf Sylt hatten Sie so etwas Unstörbares.“
Unstörbar. Ich horche auf. Das ist nun wirklich mein Wort, nicht seins. Das Schwarzbrillenpaar raucht. Ich kann auf den Weg und auf die Tische blicken.
Die Minuten vergehen.
Der Tee wird leer. Das Rotweinglas. Im Bier ist noch ein Rest.
„Gehen wir?“ fragt der Schwarzbrillenmann seine Frau.
Ich zahle. Niemand soll behaupten, ich hätte es nicht versucht.

2 Antworten auf „Zigarettenmoment“

  1. ? Ich hätte auch nicht gedacht, dass Du jemals geraucht hättest. Wo das doch so gar nicht gut ist für die Haut. Und nicht nur für die Haut ?.

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