Bodenmoment

Ich möchte zur Isestraße, dort soll heute Flohmarkt sein. Ich schlüpfe in meine Barfußschuhe, male mir den Mund purpurrot, wickle das weiche Lieblingstuch um den Hals und gehe los. In der Osterstraße wird mir bewusst, dass verkaufsoffener Sonntag ist. Reichlich Familien sind unterwegs und verteilen sich auf Gehwegen und in den Geschäften. Ich biege ab Richtung Weiher, ein wenig Grün einfangen auf meinem Stadtspaziergang. Der Herbst kommt farblos daher. Kein Sonnenstrahl verzaubert das Blattwerk zu Gold. Meine Kamera wird wenig Futter bekommen. Das Wasser am Weiher ist schwarz und grau und unausgeschlafen. Drei Gänse zelebrieren am Ufer eine Unschlüssigkeit, die mir allzu vertraut ist. Ich bleibe stehen und schaue mir die Spiegelungen auf der Wasseroberfläche an. Im Hintergrund keuchen joggende Menschen. Männer schieben schweigend Kinderwagen. Nah der Wasserlinie geh ich in die Knie, betaste mit den Fingerkuppen die nasse Erde. Überall liegen Eicheln, plattgedrückte Kastanien, verkrumpeltes Laub, Moos, kleine Äste. So viele unterschiedliche Brauntöne, Gelbnuancen. Sprenkel, feine Haarrisse im Blattgrün, Steinchen, Federn. Dass die Sonne nicht scheint, fällt mir nicht mehr auf. Auf dem Kiesweg liegen Unmengen vertrocknete Blätter. Unaufregend in der Masse. Einzeln betrachtet ein Farb- und Formenspiel von unglaublicher Schönheit. Ich bemerke, wie meine Augen mit einer gewissen Rastlosigkeit den Boden nach satten Ockertönen scannen. Mein Atem flutet flacher, im Brustkorb wirds eng. Ich richte mich auf. Ganz gerade.

Such nicht. Such nichts. Nicht suchen! Schau einfach.

Im gleichen Augenblick entdecke ich, was noch Sekunden vorher meinem fokussierten Blick entgangen war. Es ist schon fast verschwunden. Geisterhaft. Bald nur noch zertretener Staub. Das Blatt hat keine Farbe mehr. Kein Volumen. Alle Üppigkeit des Sommers verloren. Nicht einmal Herbst ist in ihm übrig.
Dass ich es noch sehen durfte, freut mich für das Blatt. Für mich. Und wegen des Fotos, in das ich mich verliebt habe, noch während ich es machte.

4 Antworten auf „Bodenmoment“

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