Tankstellendemenz

Noch für 39 km Sprit. Endlich eine Tankstelle. Ich steige aus, entsorge flott diverse zerknüllte Bäckerbrezelpapiertüten im Mülleimer an der Zapfsäule und ziehe nahezu zeitgleich einen Dieselhandschuh aus dem Wandhalter. Und erwische zwei. Kurz gibt es den Impuls, den zweiten Handschuh zurück in den Wandhalter zu friemeln, dann aber denke ich: „Leg ihn ins Auto. Vielleicht brauchst du sowas mal.“
Ich denke es, halte den Handschuh aber mit meiner Geldbörse zusammen in der Hand und tanke. Klar…einen Dieselhandschuh braucht man immer…jeder sollte einen haben. Ich muss kichern. Der Tank ist voll. Ich öffne die Beifahrertür, um den Handschuh ins Auto zu schubsen. Gedanklich bin ich schon längst mindestens fünfzig Kilometer weiter. Es ist voll. Kleine Schlange an der Kasse. Endlich bin ich dran. „Die Drei.“, sage ich zum Kassierer. „71,56“ entgegnet er. Ich will meine Tankkarte herüberreichen. Die Tankkarte? Wie kann ich sie herüberreichen, wenn ich die Geldbörse vorher nicht geöffnet habe? Die Geldbörse….hat doch eine gewisse Form, die ich gerade gar nicht fühle….denke ich…während die Hand nach vorne schnellt, so schnell…schneller als die Gedanken denken können. Der Kassierer greift reflexartig zu. Stutzt. Sieht mich ratlos an. So wie die Wartenden hinter mir.
Vor meinem geistigen Auge erscheint eine Geldbörse auf dem Beifahrersitz…in der Hand des Kassierers ruht: der Dieselhandschuh.

Tanze, als würde dich niemand sehen

Man soll ja nicht alles schlecht reden.
Wirklich nicht. Es ist unglaublich wunderbar, wie bemüht man inzwischen ist, das Toilettenerlebnis des gemeinen Hotel- oder Raststättenbesuchers zu verschönen. Allein, das Bemühen um höchste Hygiene treibt seltsame Blüten. Zumindest bei mir. Wobei ich zutiefst hoffe, dass ich nicht allein bin mit meiner Suche nach all diesen versteckten Sensoren der vollautomatischen Seifenspender, Wasserhähne, Papiertuchhalter. Es ist ein längst routinierter Automatismus, dass ich mit eingeschäumten Händen unter Wasserhähnen wedle, bis die Seifenflocken in alle Himmelsrichtungen schweben.
Für Damen mit Winkeärmchen ist es einer der beschämensten Momente der sanitären Auszeit.

Ich tanze vor Handfönautomaten.
Bezirze mit Mentalkräften Desinfektionsmitteldüsen.
Vollführe einbeinige Pirouetten vor dem Klo, um den Spülsensor zu aktivieren.
Der Klogang – ein Tanzkurs mit pantomimischem Stressmoment.
Früher griff ich beherzt in die eklige Siffseife am Beckenrand. Hach ja.

Gestern stand ich am Damentoilettenwaschbecken eines Restaurants, mit eingeschäumten Händen und bewegte sie geduldig, aber erfolglos, unter dem Wasserhahn hin und her. Rauf, runter, hin, her. Kreisend. Vibrierend. Ruckartig. Die Dame hinter mir sah eine Weile zu. Dann drängte sie mich schnaubend zur Seite, zog mit einem Ruck den Hahnhebel (tolles Wort!) nach oben und übertönte das Rauschen des Wassers mit den Worten: „Einfach mal zupacken!“ Die Stimme: ätzend. Der Blick: vernichtend.
Meine Füße: verschämt nach innen gedreht.

Sechsuhrzug

Kein Schmerz.

Eher ein kurzer, dumpfer Druck. Ich träume.
In meinem Traum hat jemand bei mir angeklopft, und vermutlich hätte ich mich nicht einmal darüber gewundert, dass jemand an meinem Kopf anklopft, wäre da nicht dieses deutlich hörbare „Oh Verzeihung!“ plötzlich und leicht schreckgeschwängert, direkt auf meine Nase gesprochen worden.
Ich öffne die Augen.
Mein Sitznachbar hat sich schon wieder aufgerichtet. Unsere Köpfe waren beim Wegnicken leicht zusammengestoßen. Verlegenheit und Belustigung vibrieren einen Moment lang zwischen uns. Dann verkriecht sich der Herr eifrig hinter der Süddeutschen.
Auf der anderen Gangseite, eine Reihe vor uns, sitzt ein Geschäftsmann Marke Durchschnittsbänker. Der Anzug blau, das Hemd maschinengebügelt, die Haut rotweinrosig. Ich bin entzückt darüber, dass der schneeweiße Philipskopfhörer einige der streng zur Seite gegelten Haare auf die andere Seite nach oben drückt.
Wenn der Kopfhörer weg ist, wird ein Gelhaarstriezel senkrecht empor stehen. Und nichts wird ihn wieder an den Platz zurück bringen, der beim morgendlichen Frisurtuning angedacht war.
Direkt hinter dem Striezelbänker sitzt ein nicht minder bemerkenswertes Exemplar Haartracht. Advokat vielleicht.
Eher Arzt. Künstlerarzt. Weiße, haarlose Hände. Ein strenges, konzentriertes Gesicht. Aber fast schulterlanges, gleichmäßig dichtes und dunkles, gewelltes Haar.
Man muss hinsehen. Auch, weil so viele Haare auf dem Kopf und so wenige an Hand und Arm sind.

Der Arztadvokat verzieht plötzlich das Gesicht. Der Mund öffnet sich, der Unterkiefer zieht stark nach unten rechts. Einmal. Zweimal. Dreimal. Verspanntes Kiefergelenk. Die vermutlich unbewusste Grimasse wirkt sich ungünstig auf das Gesamtbild aus.
Er sortiert die Seiten seiner Zeitung. Die Blätter berühren den Gelhaarstriezel des Vordermanns.
Kurzes Zucken. Der Striezel wippt, der Advokatarzt verzieht seinen Unterkiefer nach links. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Ob der das im OP auch immer macht?
Oder im Gericht? „Einspruch, euer ….einmalzweimaldreimal……Ehren!“
Mein Sitznachbar schläft schon wieder. Sein Kopf kippt zur Seite. 06:35. Ich bestelle eine Cola und bin vergnügt.

SHINING – jetzt auch in Hannover

Kosmetik Training macht Freude.Das damit verbundene Reisen hingegen birgt ungeahnte Tücken.
Abends angekommen in Hannover.
Ab ins Hotel. Schnell den Koffer ins Zimmer und dann etwas Essen gehen. Der Flur zum Zimmer ist nicht beleuchtet. Trotzdem finde ich sofort das Türschloss und bin -schwupps- im Nachtgemach.
Fenster kippen und ab ins Restaurant. Ich öffne die Zimmertür und trete in den dämmrigen Flur. Zeitgleich verlässt eine Frau rechts von mir ihr Zimmer. Ich sehe flüchtig zu ihr, sage „Guten Abend“ und gehe links Richtung Lift. Keine Antwort von ihr. Ich erwarte Schritte hinter mir. Aber es sind keine Schritte hinter mir zu hören. Vollkommene Stille. Irritiert drehe ich mich um. Da steht sie, ein wenig entfernt, blickt geradewegs in meine Richtung. Ich sehe nur die Silhouette deutlich. Die ist unheimlich. Warum hab ich mich umgedreht?
Jetzt sollte ich auch was sagen, oder? Ich tu es nicht und drehe mich wieder Richtung Lift. Sehe im Augenwinkel, sie bewegt sich auch. Glaube zu sehen: sie hat MEINE Tasche. Greife instinktiv an meinen Arm. Da ist die Tasche. Drehe mich wieder um. Sie dreht sich mit. Meine vernunftbegabte Großhirnrinde will etwas sagen, doch das limbische System peitscht mit einem Angstschauer dazwischen. WEG!!! NICHTS WIE WEG! Hinter mir macht der Lift „Bling“, ich höre wie sich die Türen öffnen, fahre herum, um schnell hinein zu springen. Dabei laufe ich gegen den aussteigenden Gast und schrei mich doof vor Schreck. Die Lifttüren schließen sich. Der Mann lacht, drückt auf den Lichtschalter neben der Lifttür und sagt: „Mit Licht ist besser.“ Mein limbisches System zieht sich peinlich berührt zurück, die Großhirnrinde zwingt mich zum Blick in den nun erhellten Flur. An dessen Ende ist eine Spiegelwand. In ihr sehe ich den Mann und mich.
Ich sage: „Ja, mit Licht ist besser.“

Vegetatives Waterloo (2012)

Imagi est animi vultus – das Gesicht ist ein Abbild der Seele, wie der Lateiner sagt. In meinem Fall also ein Spiegel ätherischer Jugendlichkeit, hatte ich doch gerade eine fulminant glättende Kosmetikbehandlung im Herzen Hamburgs genossen. Das Ergebnis war so wunderbar, dass ich mich hinreißen ließ pur, und ohne jegliche Make-Up-Note den Jungfernstieg zu betreten.
Nach eifriger Schaufensterbegutachtung hie und dort, betrat ich das Alsterhaus.

Meine fröhliche Shoppinglaune fand abrupt ihr Ende, als ich am Stand einer renommierten Visagistenschmiede einen Blick in den Tageslichtspiegel warf.
Imagi est animi vultus. Meine Seele hatte zwischenzeitlich Fettglanz entwickelt.
Und während ich noch mein glänzendes Antlitz beäugte, schwebte auch schon eine elfengleiche, junge Dame heran.
„Sie interessieren sich für unsere Make Up Produkte?“
(Äh…..nicht wirklich!)
„Ja, besonders für die Puder“ hörte ich mich antworten.
„Darf ich Sie einladen Platz zu nehmen? Gerne zeige ich Ihnen den passenden Puder für Ihren Hauttyp, wir könnten das direkt einmal mit einem typgerechten Make Up für Sie kombinieren.“

Ohne viele Worte begann die Visagistin Tiegel und Töpfchen zu öffnen, fischte aus einem Waffenarsenal von Pinseln die benötigten heraus und begann, wofür ich zunächst dankbar war, ohne Erklärungen und Kommentare mit ihrem Schminkwerk.
Aber dann geschah, was immer geschieht, wenn ich mich seelisch unvorbereitet in die Hände mir wildfremder Personen begebe: vegetatives Waterloo, nervlicher Ausfallschritt, feindliche Übernahme stammesgeschichtlich uralter Zellstrukturen! Ich, sagen wir es gemäßigt, hasse unangemeldete physische Begegnungen mit mir unbekannten Menschen!
Zuerst spürte ich die fortschreitende Kaltschweißigkeit meiner Hände, offensichtlich hatte Sympathikus, nervlicher Herr über den Fluchtimpuls, das Zepter ergriffen. Unaufhaltsam presste sich jeder einzelne, noch vor kurzer Zeit so liebevoll in meine Haut massierte Wirkstoff zurück ans Licht der Welt, das unbarmherzige Licht der Tageslichtlampe.
„Sie neigen ja etwas zu Transpiration!“
„Ja, äh, nein, äh, das ist eher Fett.“
(EHER FETT? Bist du jetzt ganz blöd? Du kannst doch nicht im Alsterhaus sitzen und verkünden, dass du eben eher fettglänzend bist!)
Madame Elfe puderte zum dritten Mal über meine Oberlippe:
„Ich denke es ist beides: Fett und Transpiration!“

Fett und Transpiration.
Pest und Cholera.
Norovirus und Schweinegrippe.
Man muss im Leben aus dem Vollen schöpfen.

Ein Kaltschweißtröpfchen perlte über mein Augenlid.
Mein Puls musste inzwischen bei 180 angekommen sein, mein Rock klebte derart an meinem Hintern, dass ich beim Aufstehen so aussehen würde, als habe man mich darin einvakuumiert.
Und kein Entrinnen.
Madame Elfe hatte inzwischen den Pinsel zur Seite gelegt und tauchte nun eine gigantische Quaste tief in den Pudertopf, um meinen gesamten Kopf für Minuten in eine Wolke mattierender Partikel zu hüllen.

„Halten Sie die Augen geschlossen, falls Sie Kontaktlinsen tragen.“
„Ja“, sagte ich, hätte aber besser auch den Mund geschlossen gehalten.
Jetzt bitte alles, nur nicht husten, nicht husten, nicht husten.

Die Puderwolke verflog allmählich und zum Vorschein kam mein puterrotes, aber endlich sowas von unglänzendes Hustenreizunterdückungsgesicht. Madame Elfe zeigte sich entzückt über ihr Werk.

„Sie brauchen den ‚Special Finishing Double Mat Effekt Antitranspirant Powder‘ mit der XL-Quaste, die ja eigentlich für den Körper gedacht ist, aber das kann man ruhig zweckentfremden.“
Ich konnte nur noch ein kaufwilliges Röcheln hervorbringen.

Madame Elfe beendete ihr Werk professionell. Ein zartgrauer Lidschatten betonte meine hervorgetretenen Augäpfel wunderbar, ein sommerhummerfarbener Lippenstift lenkte von allen hektischen Flecken am Hals ab.