45 Minuten Autofahrt. Mir war so dringend nach Wald, tiefem Wald. Natürlich sind die Wege sonntagsbelebt. Kinder springen neben Hunden, Trekkingradler zischen wie Neongeister durchs Gehölz,während Wandergruppen die Ruhe zerplappern, die sie auf ihrem Fußmarsch suchen.
Ich war noch nie hier. Vielleicht werde ich mich verlaufen. Ein ums andere Mal biege ich auf den nächst schmaleren Weg ab, schließlich gehe ich direkt quer ins Gehölz.
Es wird friedlich. Ich hab Barfußschuhe an und ertaste den Boden. Weiche Mooskissen. Feine Steinchen. Reisig überall und trockenes Laub. Die Luft ist noch spätsommerwarm, doch der Herbst ist nicht nur im Fluggeschnatter der Graugänse zugegen, die immer wieder in Formationen, die ich jenseits der Baumkronen nur ahnen kann, über mich hinweg ziehen.
Licht und Schatten bieten ihr unnachahmliches Spiel. Dort, wo die Sonne sich bis zum Boden durchblinzeln kann, setzt sie immer etwas beachtenswertes in Szene, so kommt es mir vor. Baumstümpfe, die wie leergespielte, kleine Waldbühnen nach dem Schlussapplaus wirken. Flirrendes Tümpelwasser auf dessen rostroten Flecken Insekten kleine Kreise auf die Wasseroberfläche surren. Pilzköpfchen mogeln sich ins warme Licht, alles ist silbrig vernetzt mit hauchzarten Spinnfäden. Wie Tätowierungen ruhen Blätterschatten auf den Baumrinden. An manchen perlt Baumharz in glitzernden Sternchen herab.Jetzt ist es wirklich still. Kein Vogel. Dort, wo sich der Wald an kleine, wiesige Felder schmiegt, sind manchmal Feldgrillen zu hören. Winzige, braune Frösche fliehen vor meinen Schritten. Ein großer hält inne und sieht mich kurz an. Dann hüpft er nach links davon. Ich nach rechts. Obwohl nichts blüht, ist alles voll Farben und Formen. Pechschwarze Nacktschnecken kriechen durch die Schluchten des Wurzelwerks umgekippter Bäume. Manchmal höre ich einen Bachlauf.
Es werden dreieinhalb Stunden vergehen.
Als ich die breiten Wege wieder erreiche, steht die Sonne schon tief. Ich schau noch einmal zurück auf die Moosteppiche, die das langsame Verrotten der Baumstümpfe mit ihrem grünen Alles-Ist-Gut überwachsen haben. Ein Wald ist ein Kosmos, keine Kulisse.
Aufräummoment
„Ich sehe dich. Und mich. Und keine Lösung.“
Das Wohnheimzimmer roch nach altgewohnten Möbeln und Arztseife. Von draußen schien etwas Licht aus den OP-Sälen des Krankenhauses gegenüber durch den schmalen Schlitz zwischen den zugezogenen Stoffvorhängen. Dunkelgrün, fensterbrettlang, faltenfrei. Im Heizkörper ein leises Wasserspiel, endlos der Kälte Klang gebend. Seine Augen verweilten in Leerstarre, die meinen geschlossen. Eigentlich abgeschmackt. Dieses Zimmer. Diese Umstände. Seine Worte sanken in mich wie frostiger Tau auf eine frisch gepflanzte Wiese.
„Kannst du mir sagen, was das wird? Der Mann ist 15 Jahre älter als du! Glaubst du, der gibt für dich alles auf? Glaubst du das?“ hatte meine Mutter geschrien. Sie, die nie schrie.
„Papa ist 28 Jahre älter als du!“
„Und was ist übrig? Was?“ Ihre Hand sauste knapp an mir vorbei durch die Luft, einen verzweifelten Bogen zeichnend in den Raum.
Ich lief hinaus zum Auto und fuhr zum Krankenhaus. Sah das Licht im Bereitschaftszimmer. Dass ich keine Schuhe anhatte, merkte ich erst beim Aussteigen. Er machte die Tür auf und trat keinen Schritt zur Seite. „Da bist du.“ begann er mit einer Stimme aus Wollfilz, und betrachtete meine nackten, rot gefrorenen Füße.
62 muss er jetzt sein. Ich trage dicke, rote Stricksocken, als ich den Briefumschlag öffne und mich seiner Schrift nähere. 23 Jahre alte Zeilen; Kuli auf recyceltem Notizpapier. Was ist und was nicht geht und nie sein wird. Wer ich bin und er und wir. Dass uns das niemand nehmen kann. Einmal unvernünftig sein.
Ich war nie wieder in Venedig. Am Strand von Vrouwenpolder. Oder barfuß im Schnee. Ich, die nie schrie.
Lesung in Lübeck!
Strandmoment
Es ist angenehm leer. Die Strandkörbe warten in Reih und Glied auf den Besucherstrom des Tages. Ich gehe hinab bis zum Meersaum. Meine Zehen kriechen mit Wonne bei jedem Schritt kurz unter den Sand. Zwei Morgenmänner sitzen im Wasser, ihr Lachen schüttern wie das Haar. Immer wieder umspült das Meer meine tastenden Füße. Ich atme ein. Nicht tief, in den Bauch oder die Flanke. Nur ein. Spüre die Freude über diesen Impuls, der das Salz in der Luft bis tief in meinen Körper zieht. Kristallines erinnern.
Sprudelnd weichen die Wellen zurück und hinterlassen mit den Quallen kleine Kunstwerke im Sand.
Obwohl – ein paar von ihnen sehen aus wie angespülte Silikon-Brustimplantate. Mein Aufkichern wird von der mir entgegen kommenden, alten Dame als Aufforderung verstanden:
„Ihnen auch!“, sagt sie, obwohl ich keinen Gruß gesprochen habe. Dabei entlässt ihre Stimme die bauchig-klaren Töne eines Xylophons Richtung Himmel. Hinter den lebensgeschmälerten Lippen reflektieren pralle Kronen wie Gletscher das Sonnenlicht. In ihrem Augenleuchten spiegelt sich die Freude über Butterblumen und gefütterte Enten. Sie mag den ersten Löffel Erdbeermarmelade immer pur, bevor sie einen zweiten auf das Croissant kleckst. Das kleine z schreibt sie noch mit Schlaufe nach unten, weil sie alles was rund ist mag.
Ihre Haut reiht Runzel an Runzel. Tief gebräunt liegt sie als Überwurf auf dem gekrümmten Körper. Einzige Bekleidung ist eine türkise Bikinihose. An die Strandtasche ist ein buntes Tuch gebunden.
Auf einmal verstehe ich nicht mehr, was an diesem alten Körper nicht schön sein sollte. Warum ich selbst es jemals „unschön“ fand, wenn ich sonnengegerbte Haut erblickte. Schon am Tag zuvor war mir diese Kategorie beim Betrachten des Treibens am Strand urplötzlich abhanden gekommen. Ich sah nicht auf Körper, die schön, dünn, muskulös, wabbelig, straff, geformt, faltenlos, geschrumpelt, cellulitefrei oder krampfadergemasert waren. Hässlich oder hübsch. Richtig oder falsch.
Ich sah traurige oder lebendige, gebrochene oder fröhliche, verbitterte oder gelöste, angstbeklemmte oder vertrauensvolle Menschenformen. Fleischgewordenes Gefühl.
„Danke.“ sage ich endlich, aber das nackte Vergnügen ist längst weiter gegangen. Meine Augen verlieren sich in den Details auf dem Boden vor mir. Algenteppiche erschaffen mit dem Umschließen toter Geschöpfe gemäldeartige Kompositionen. Ein Farbrausch, der mit jeder Welle neu zusammengesetzt wird.
Ich bleibe bei den kleinen Buhnenresten stehen, auf deren grünen Frisuren kleine Fliegen hüpfen. Die großen Ausgetrockneten sind gezeiten- und wettergeformt. Unwillkürlich rieche ich an ihnen: algig, hölzern mit zart modriger Note.
Bald wird das Meer die winzigen Schätze, die es im Sand abgelegt hat, wieder mitnehmen. Kindlich stehlen meinen Augen. Ich gehe. Weiter. Weiter. Weiter.
Mein Magen wirft salopp dazwischen, dass ich noch nie ein Bratheringbrötchen gegessen habe. Ich wähle den nächsten Aufgang. Finde ein Brötchen, einen Sitzplatz in den Dünen und schaue den blauen Mustern des Wassers zu. Lange.
Abends erreiche ich Hamburg. Der Sand auf meinen Zehen wird noch auf dem Bahnsteig vom Regen weggespült.
Flashback
Zweimal dreht sich der Schlüssel im Schloss, dann nimmt mich die stille Wohnung auf. Die Tür fällt hinter mir zu, ich lehne mich nicht an sie; werfe Tasche und Jacke auf den Boden, betrete die Küche, schenke hastig und achtlos ein Glas Rotwein ein, das unangerührt auf der Anrichte bleibt. Gehe wieder hinaus. Hinüber ins abgedunkelte Schreibzimmer. Licht? Keine Musik. Ich bewahre die Dunkelheit und lasse die Rollos unten. Eine Jacke. Die Gänsehaut auf meinen Armen erinnert mich daran, wie sehr ich fröstele. Eine Jacke ist wie keine Umarmung. Ich greife zum Telefon. Henk geht nicht ran.
„Wenn’s dich nicht stört, ich sitz grad am Compi und guck mir Klodeckel an.“ An Suses Stimme erkenne ich, dass sie das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hat.
„Nein. Neinnein. Stört nicht. Klodeckel sind gut.“
Suse lacht: „Ich glaube nicht, dass ich heute einen kaufe. Es treibt mich zu diesen Spaß-Designs. Das bereue ich spätestens in drei Tagen. Aber kann man benutzte Klodeckel zurückgeben?“
Mir fällt keine Antwort ein.
Der Mann im Zug ist nur an mir vorbei gegangen. Mehr nicht. Ich weiß gar nicht, wie er aussah. Da war nur der Duft. Gar nicht lang. Das Parfum. Wie Muränen schossen die Bilder aus der Tiefe in mein Bewusstsein. Ich wollte aufspringen, blieb sitzen. Meine Sitznachbarin sah irritiert auf das niedergedrückte Aufbäumen meines Körpers.
„Ich könnte einen Kompromissdeckel kaufen. Weder weiß, noch Spaßdesign. Dafür in blau-glänzend oder Marmoroptik.“
Ich wiederhole verunglückt sorglos „blauglänzend“ und versuche mich in Suses Bad zu denken. Denke an heißes Wasser auf meiner Haut. Schaum. Abtauchen in den Duft von Fenjala. Wie bei Oma, früher, wenn ich allein in den Ferien dort war und ein „Mäderlbad“ nehmen durfte. Als die Badetücher so groß waren, dass kein Luftzug eine Chance hatte.
Suses Stimme ist weich und gepresst. Manchmal verrutscht sie. Sie weiß, dass ich nie anrufe und plappert. Ich stelle auf Lautsprecher und lege meine Hände auf meine Oberarme. Es wird warm. Die Lichtstreifen neben den Rollos sind verschwunden. Bevor die Fruchtfliegen ertrinken, gehe ich in die Küche und schütte den Wein in den Ausguss. Der Tag ist längst vorbei.