Augenmoment

Die Luft ist empfindlich kühl geworden. Ich bin froh, dass ich die Mütze aufgesetzt habe. Meine Hände ruhen in den Manteltaschen, fingerwärmend zu kleinen Fäusten geformt. Am Schreibtisch vorhin war es still und stiller. Ein Tag mit Worten, tippen und Tee. Zum Hinausgehen musste ich mir einen Ruck geben.
Immerhin ist auf meinem Weg vom Vorweihnachtsgewusel noch nicht viel zu spüren.
Gleichwohl bin ich froh, dass die Kopfhörerstöpsel den Straßenlärm abfangen. Agnes Obel schickt sanfte Cellotöne zu meinem Trommelfell. Sollte mein Ich einen Klang haben, dann ist es Cello. Obels Cello.
Fuel to fire.
Der dunkelgraue Himmel macht eine Sonnenbrille überflüssig. Heute wird es regnen. Ich denke an die Plätzchen, die ich noch backen will. Denke an in Puderzucker getunkte Fingerkuppen. Den Geruch von gebräuntem Nussteig. Zerlassene Butter. Nelken. Muttis Metallbox zur Aufbewahrung. Mein Herz liegt seit dem Aufstehen wie eine Bowlingkugel in meinem Brustkorb. Schwer, hart und mit der Lust, Rippen zum splittern zu bringen. Ich gehe langsamer, damit ihm die Wucht dafür abhanden kommt.

Von rechts höre ich, durch Agnes Obels Cello gedämpft, Münzenklappern in einem Becher und die Frage:
„Enschulljen Sie, hamse was Kleingeld?“ Wieder Kleingeldgerappel. Ich halte an, ziehe meine Tasche von der Schulter und will nach dem Portemonnaie gucken.
„Enschulljung, hören Sie mich? Hallo? Können Sie mich hören?“ Ja, ja natürlich kann ich ihn hören. Ja, ich hab die Ohrstöpsel noch drin, ich weiß. Ich wollte doch erst schnell die Geldbörse greifen. Aber ja, er weiß ja nicht, dass die Musik nur leise läuft. Moment. Gleich. Erst die Börse. Wo ist sie denn hin gerutscht?
„Hallo? Hören Sie mich? Ich spreche nicht gern mit Menschen, die mich nicht hören können.“
In diesem Augenblick wird mir meine ganze Unhöflichkeit bewusst. Was für ein ignorantes Gebaren. Es wäre ein einziger, rascher Handgriff gewesen! Das blöde Portemonnaie läuft nicht weg aus meiner Tasche. Ich greife nach den Kabeln, befreie die Ohren, hebe den Kopf und sage, indem ich dem Mann unvermittelt in die Augen schaue:
„Bitte verzeihen Sie. Ich höre Sie.“
Sein Blick weicht nicht aus. Die Augen sind klein, blau, wässrig. Struppige, kurze, rotblonde Wimpern, zwischen denen am Lidrand kleine Krümel hängen. Die Pupillen winzig, lustig, konfrontationsbereit. Wir gucken uns einen Moment zu lang an. Wessen Augen jetzt als erstes ausweichen, der hat … wie klein sie wirklich sind, seine Augen. Tief zurückgezogen in die Höhlen und doch so wach. Startklar. Wie Zündknöpfe. Dass er die Lippen jetzt zu einem leichten Lächeln verzieht, erkenne ich an der Bewegung der Lider; dann sagt er:
„Sie sind der erste Mensch, der mir heute richtig direkt in die Augen guckt.“ Seine Stimme klingt nach Erdnuss und Gaunerglück.
Seltsam ertappt, spüre ich den Impuls meinen Kopf abzuwenden, doch der Augenkontakt bricht nicht ab. Wie oft gucke ich Menschen in die Augen, selbst wenn ich ihnen in die Auge gucke?

Der Mann ist etwas größer als ich. Ihm fehlt ein Frontzahn. Er wirkt wie ein Rechteck in blauem Filz. Die Nase ist lang, streng, makellos. Das Haar matt und dreckig grau. Mein Hände erinnern sich an das Kleingeld. Ich greife endlich nach dem Portemonnaie und fische einen Euro heraus.
„Wo hinein?“
Der Mann hält mir einen blinkenden Becher hin. Irritiert geh ich einen winzigen Schritt zurück.
„Da? Ah, ich dachte, das sei eine Art Lampe. Also, da hinein, ja?“
„Ja, da hinein. Sie können das Licht nicht kaputt machen.“
In diesem Moment geht unser beider kurzes Kichern in anhaltendes Gelächter über. Wir albern wie Clowns. Ich brauche zwei Anläufe, bevor der Euro im Becher versinkt. Nur allmählich ebbt das Zwerchfellzucken ab. Ich räuspere mich.
„Du liebe Güte. Sie sind übrigens der erste Mensch, der heute richtig mit mir gelacht hat!“
Noch einmal treffen sich die Augen direkt. Spontan gehen die Arme nach vorn und wir geben einander herzlich die Hand. Die seine so viel wärmer als meine. Rau und zäh.
„Da sehense Mal. Gut, dasse mich gehört haben.“
„Gut, dass ich Sie gehört habe.“
„Schönen Tach noch.“
„Danke. Ihnen auch.“

Ich gehe ein paar Schritte, bevor ich die Welt wieder mit Frau Obel abwehre.
Die Bowlingkugel in meinem Brustkorb weg.

Eine Antwort auf „Augenmoment“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert