Köpfe

Die beiden Frauen sind klein. Zwillinge. Gleichgekleidete Zwillinge. Sie tragen blaue Hosen und blaue Anoraks, die gleichen grauen Rucksäcke, aus deren seitlichem Netzfach die gleichen blassgrünen Trinkflaschen ragen. Wanderstöcke. Selbst die Schuhe sind gleich. Ich vermute spontan eine gleiche Anordnung der im Sohlenprofil eingeklemmten Kiesel.

Sie setzen sich.  Im Bus. Nebeneinander, eine Reihe vor mir, allerdings auf der anderen Seite. Im Viertelprofil sehe ich die Ränder der gleichen Brillengestelle. Der gleiche Hautton, blass und teigig. Das Haar wurde nicht gekämmt, weist bei beiden eine deutliche Strähnigkeit auf, was das gesamte Erscheinungsbild von „leger“ zu „leicht ungepflegt“ verschiebt. Ich blicke auf die Hinterköpfe, auf denen das Haar im oberen Bereich verwirbelt auseinanderklafft, in alle Richtungen platt gedrückt von der Nacht auf dem Kopfkissen. Obwohl sich diese Kissenabdruckstellen in den Ausprägungsdetails etwas voneinander unterscheiden, bin ich fasziniert davon, wie groß auch hier der optische Gleichklang ausfällt.

Ich frage mich, ob sie gleiche Stimmen haben. Ob Zwillinge überhaupt gleiche Stimmen haben. Frage mich, warum ich mich das noch nicht gefragt habe. Und welche Zwillinge ich kenne. Denke an die Kessler-Zwillinge, kann mich aber nicht an ihre Stimmen erinnern, nur an ihre Beine und daran, dass sie den Scheitel auf unterschiedlichen Seiten hatten. Denke an Ben und Tobi aus meiner Schulzeit. Kann mich nicht an ihre Stimmen erinnern.

Die beiden Frauen wirken jünger, weil sie klein sind, dabei weist das Gesamtbild mindestens auf das fünfte Lebensjahrzehnt hin. Einzelne Haare wippen im Rhythmus der Bodenwellen.

Der Bus stoppt. Eine Wandergruppe steigt ein. Offensichtlich zwei Ehepaare. Die Männer tragen Strohhüte ohne was drunter, die Frauen geschummelte Locken. Wenig Sommer in den Gesichtern und viel Herzschwäche. Funktionskleidung in farblicher Abstimmung. Das erste Paar beige-betont, das zweite blau.

Nachdem sie bezahlt haben gehen sie in den hinteren Bereich des Busses.

„Ich bin im Bus“, sagt plötzlich die Frau auf dem Sitzplatz vor mir in ihr Handy, „da hast du Glück, dass du mich erreichst, steige gleich aus!“ Ob sie wohl dann aus der Welt ist?

Beim Wort „Glück“ werde ich des Marienkäfers gewahr, der über ihre stark fixierte Frisur vom Ohr Richtung Oberhaupt klettert. Gleich steigt er aus, denk ich.

Von den Zwillingen muss eine niesen.

Eine Antwort auf „Köpfe“

  1. … ich kann dir verraten, dass ich Zwillingsfrauen kenne, die genau die gleiche Stimme haben – und das seit 50 Jahren!
    Danke für deine so wunderbar beobachteten und menschlichen Geschichten.

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