Frizzelndes Bitzeln

Das Licht ist gedimmt. Eine leise, unaufdringliche Musik säuselt aus dem Hintergrund und begleitet jede meiner Massagebewegungen auf dem Dekolleté meiner Kundin. Was für ein wunderbares Massagedekolleté! Weich. Wogend. Knochenlos. Ohne sperrig hervorstechendes Schlüsselbein, das den Bewegungsfluss unterbricht und Streichungsgriffe zum Hürdenlauf werden lässt; kein knochiges Brustbein, auf dem sich meine Finger fühlen wie auf einer Apfelreibe. Nur schöne Haut. Fest und nachgiebig wie eines dieser Weltraumnackenkissen. Meine Hände gleiten den Hals hinauf (ein Meisterwerk sehnenlosen Gewebes), die Finger umkreisen den Mund, friktieren die Nasolabialfalte, gleiten weiter über die Nase empor, wo sie nach einem Drei-Atemzüge-Halt am Trigeminusaustrittspunkt auf der Stirn ankommen.
In diesem Moment geschieht es.
Ein winziges, aber tödlich frizzelndes Bitzeln hinten in meinem Hals.
Mehrfaches, lautes und kräftiges Räuspern würde wahrscheinlich direkt helfen, aber die Stille im Zimmer ist so still und der Atem des wogenden Dekolletés so ruhig und gleichmäßig, dass ich den Räusperimpuls wegdrücke. Natürlich in der Hoffnung, das frizzelnde Bitzeln würde jeden Moment nachlassen und seinen peinigenden Hustenreiz mit fort nehmen. Das Gegenteil geschieht. Innerhalb von Sekunden werde ich puterrot. Wasser tritt mir in die Augen, ich spüre ein heißes Pulsieren an meinen Schläfen. Jeder Atemzug facht das Bitzeln an. Ich versuche nicht zu atmen. Ich versuche nicht zu grunzen und schon gar nicht zu husten. Zum Aufstehen und Hinausgehen ist es zu spät, jede ausladende Körperbewegung hätte unweigerlich eine Hustenexplosion zur Folge. Vulkanausbruch in die Stille. Nein, ich muss es irgendwie aussitzen, wegschlucken und mental niederdrücken. Es muss gehen!
Ich versuche mich auf die Massagegriffe zu konzentrieren, was mir überhaupt nicht gelingt. Ich bin völlig auf das Hustenreizunterdrücken fokussiert und merke erst nach der 34. Wiederholung, dass ich immer noch eine Acht um die Augen kreise. Ruckartig ziehe ich die Hände weiter zu den Wangen. Die Kundin, von der plötzlichen Bewegung aus der Tiefe ihrer Entspannung geholt, schmatzt leise und bläst hörbar Luft aus der Nase. Panisch überlege ich, was wohl passiert, wenn sie jetzt die Augen öffnet: Sie blickte auf mein rotes,schweißnasses und verzerrtes Gesicht über ihr. Augen, weit aus den Höhlen getreten. Zusammen gepresste Lippen, einen Jahrhunderthusten erwartend, angefacht vom nimmermüden frizzelnden Bitzeln.
Zu meiner großen Erleichterung bleiben die Augen meiner Kundin geschlossen. Sie sackt fühlbar zurück in ihren komatösen Wachschlaf.
Jetzt aus dem eigenen Körper treten können! Das Bitzeln nicht mehr spüren! Eine Schluckwelle durchjagt meinen Schlund. Es gluckst und gurgelt. Wasser rinnt enthemmt aus dem Tränenkanal die Wangen hinunter, mein Brustkorb probt eine Zwangskontraktion, die ich in aller letzter Sekunde verhindern kann. Alle Energien, die sich noch aufbringen lassen, stemme ich dem Unheil entgegen. Inzwischen hänge ich in der 98. Wiederholung der Kinnkonturstreichung, ob ich den Kaumuskel geknetet hab, weiß ich überhaupt nicht mehr. Auch nicht, ob ich zwischendurch geatmet habe. Irgendwo in meinem Hals sitzt der Teufel und piekt eine Zahnstocherspitze in meine Schleimhaut. Ich weiß, ich werde diesen Stellungskrieg verlieren. Ich weiß, es dauert nicht mehr lang, bis sich der Husten entladen wird. So laut und unbeherrscht und erbarmungslos, wie es nur ein unterdrückter Husten kann. Es wird ein so heftiges und hemmungsloses Husten, dass sich meine Arme zur Seite krampfen werden, wie die Flügel eines Hühnchens auf dem Drehgrill. Meine Kundin wird vor Schreck von der Liege fallen, berieselt vom Spuckeregen aus den Tiefen meiner Lungenflügel. Angewidert wird sie flink ihre Sachen an sich raffen und voll Ekel und Abscheu aus dem Studio flüchten. Schnell wird sich die Kunde von der unbeherrschten Kosmetikerin verbreiten, die sich und ihre körperlichen Abläufe so wenig zu kontrollieren vermag. Die Beschreibungen meines hustenverzerrten Gesichts werden sich verselbständigen. Von Teufelsfratze wird die Rede sein! Von Besessenheit und Exorzismus. Niemand wird auch auch nur mehr in die Nähe des Ladens kommen wollen! Ich werde meinen Job verlieren und aus meiner Wohnung gejagt werden. Meine Freunde werden sich abwenden und ich werde einsam und ungeliebt in einer dunklen Sackgasse sterben!
Plötzlich ist das frizzelnde Bitzeln weg.

Weg! Meine Hände sind wieder auf dem Dekolleté angekommen, umkreisen die Schultern und wandern mit sanftem Druck am Trapezius entlang. Das Klopfen in meinem Kopf wird weniger. Ich atme. Ich werde leben.
Später beim Hinausgehen sagt meine Kundin: „Bei so einer Massage spürt man mit jeder Faser, wie sich Ihre innere Ruhe auf einen selbst überträgt. Herrlich.“

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