Liftmoment

Der Tag war lang. Nach einer wenig erquicklichen Zugfahrt komme ich wohlbehalten im Hotel an. Ja, mein Zimmer ist reserviert.
Ja, ich muss nichts mehr ausfüllen.
Ja, man wünscht mir einen angenehmen Aufenthalt.
Man sei 24 Stunden für mich da. Das war nicht mal bei Mutti der Fall.
„Die Aufzüge finden Sie dort hinten links.“, sagt der Mann aus dem 24 Std.-Team.
Das ist gut.
Ich gehe gerne Treppe, aber nicht in den 7. Stock.
Bling. Lifttür auf, ich rein, Lifttür zu.
Ich drücke die 7. Der Lichtring um den 7-Knopf blinkt kurz. Nichts bewegt sich. Ich drücke nochmal. Kurzes Blinken. Stille. Hm. Puh.
Drücken.
Blinken.
Drücken.
Blinken.
Der Lift steht. Das alles wirkt nicht, als läge ein technischer Fehler vor. Aber sich nicht in Bewegung setzende Aufzüge haben eindeutig ihr Zielaufgabe verfehlt.
Drücken.
Blinken.
Stille.
Ich gehe kurz auf und ab. Vielleicht ist das ein Siri-Lift und ich muss sprechen? Ich sage: „Siebter Stock!“ Nichts geschieht. Nicht mal eine Antwort.
„Siebter Stock, bitte!“
Stille.
Ich drücke den Türöffner und trete aus dem Lift. Drücke den Aufzugknopf auf der gegenüber liegenden Seite, wo sofort der nächste Lift seine Türen öffnet.
Ich hinein. 7 drücken.
Blinken.
Nichts passiert.
Drücken.
Blinken.
Drücken.
Blinken.
Und ja, ich versuche mein Glück sogar noch im dritten der vier vorhandenen Aufzüge; hoffend, dass niemand aus dem Restaurantbereich mein Treiben verfolgt.
Mir ist klar, es liegt an mir. Ich weiß, es liegt an mir. Aber ich weiß nicht, warum. Ich meine, was kann man in einem Lift anderes machen, als den Etagenknopf drücken? WAS? Diese jammervolle Erkenntnis, dass ich jetzt wieder aussteigen und zur Rezeption gehen muss. Um dort garantiert eine derart simple Erklärung zu bekommen, dass es mir Tränen und Schamesröte und alles Mögliche ins Gesicht treiben wird!
„Ich….bitte…also ihre Aufzüge…funktionieren die irgendwie anders, als andere Aufzüge?“ Der Mann, der 24 Stunden für mich da ist, lächelt gütig: „Sie müssen einmal die Zimmerkarte durch den Scanner ziehen. Direkt unter den Knöpfen. Erst scannen, dann Etage wählen.“
Ja, logisch!
Natürlich!
Also, bitte.
Das versteht sich wirklich von selbst.
Mir schwant, warum es gut ist, dass in diesem Hotel rund um die Uhr jemand für mich da ist. Für mich. Nur für mich. Ja.
Ein klein wenig matt gehe ich zurück zum Lift. Ein älteres Ehepaar, das eben erst eingecheckt hat betritt vor mir den Aufzug. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, blickt der Mann kurz auf die Etagenknopf-Auswahl, zieht seine Zimmerkarte durch den Scanner und wählt die 5.
Mir ist wirklich nie nach Cognac.
Aber jetzt!

Kassenschlangenmoment – mal wieder

„Eine vierte Kasse bitte!“

Supermarkt Hoheluftbrücke.
Dank des direkt daneben befindlichen Eingangs zur Hochbahn trifft hier zu jeder Tageszeit alles zusammen, was sich sonst nie begegnet: betagte Studenten und hochbegabte Rollatorgreise, dröge Agenturscouts und hippe Banker, Mütter und Muddis, Papas und Erzeuger.
19:30, der Boden vibriert. In der Kundschaft Arme ruhen vier bis fünf Artikel, ehe sie aufs Band gelegt werden: Chips und Bier, abgepacktes Sushi, Sojaschnetzel und Topinambur.
Ich habe Platz drei in der Schlange der 4.Kasse ergattert. Die ersten Waren, die über den Scanner gezogen werden, gehören einer auffallend hübschen und zarten Frau. Sie zählt zu jenen, bei denen niemand verwundert ist, wenn sie plötzlich von einem Fremden Blumen geschenkt bekäme. Rechts neben ihr ein kleines, braungeschopftes Mädchen, vielleicht fünf, das den offensichtlich mutterkontaktsuchenden, jüngeren Bruder (max. drei) stoisch abwehrt.
„Actimel?“
Der Junge schaut seine Schwester an.

Belustig glaube ich mich verhört zu haben. Actimel? Kinder quengeln an Kassen nach Actimel? Gott…ich bin ECHT alt.

„Willst du eins?“ fragt das Mädchen mit klapperschlangiger Süße. Der Bruder nickt.
Und noch bevor die besonnene Mutter reagieren und die erbetene Actimel-Gabe auf „draußen / im Auto / zuhause /den Geburtstag“ oder einfach später verschieben kann, schnappt die Klapperschlange gezielt zu: „Tja. Hier hab ich kein Actimel!“
„KEIIIIIIN ACTIMEEEEEELLLLL?“
Die Stimme des Jungen kippt in den Tonfall jener hysterischen Mittzwanzigerinnen, deren anvisiertes Paar Designerpumps es nur zwei Nummern kleiner gibt.
Die Augen weit aufgerissen vor Schmerz und Fassungslosigkeit, bricht er dramatisch vor der Kasse zusammen.
„ACTIMEEEEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEEEEL!“
In endloser Schleife pressen die kleinen Lippen den Joghurtnamen hervor.
Tief holt er Luft, tiefer und tiefer, um umso lauter, gequälter und wie ein ins Rückenmark Getroffener zu brüllen: „ACTIMEEEEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEL!“
Die Kassiererin ist erschüttert. Sie steht auf, versucht einen Blick auf das Kind zu erhaschen. Ihr als Trost gemeinter Satz kommt einer verbalen Steinigung gleich: „Guck mal, an der Kasse gibt es doch kein Actimel. Aber einen Lolli!“
Der Sterbende, eben noch halb sitzend, rollt sich nun ein wie eine Kugel. Der kleine Körper zittert und aus der Mitte der Kugel röhrt schauerlich und herzzerreißend: „ACTIMEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEL!“

Während die Schwesterschlange ungerührt die wenigen Lebensmittel in eine Tüte packt, forciert die Mutter den Bezahlvorgang mit flehendem Blick.
„ACTIMEEEEEEEEEEL! KEIN ACTIMEEEEEEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEEEEL!“
Schnell wechseln Scheine den Besitzer, wandert die Geldbörse zurück in die Handtasche. Behände greift die Mutter den Bub, der sich in ihren Armen aufklappt und alle Viere schlapp herabhängen lässt.
„ACTIMEEEEEEEEEL!“ tropft es aus dem hochroten Kopf. „ACTIMEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEL!“

Die Schiebetür geht auf. Schließt sich. Stille.

An den Kassen sekundenlanges Schweigen, selbst die Kassiererinnen halten gleichzeitig inne und atmen leise. Alle starren einander an. Mundwinkel aufwärts.
Ein Kunde betritt den Laden.
„ACTIMEEEEEEEEEEL“ tönt es aus den Tiefen des Hochbahn-Gängelabyrinths.

Ich glaube, der Joghurt hat Potenzial.

Der Taxi Coach

Freitagnachmittag. Es geht nicht in den Feierabend, es geht nach Berlin. Seminarwochenende. Mein Trapeziusmuskel ist angespannt. Schließlich reise ich mit der deutschen Bahn. Auf der Strecke Hamburg-Berlin-Hamburg ging das bisher noch nie – ich betone: noch nie – glatt. Das Taxi immerhin ist überpünktlich. Durch das Schaufenster sehe ich allerdings, dass der Fahrer zum Wohneingang des Hauses geht, nicht hier zur Ladentür. Ich gehe hinaus.

„Sie suchen vermutlich mich.“
Der Taximann dreht sich um. Ich bin verdutzt. So viel Freude in einem Gesicht hatte ich, zumindest bei Taxifahrern, lange nicht.
„Frau Strang?“
„Ja.“
„Na, dann los!“
„Bahnhof Altona.“
„Ah. Es geht heim ins Wochenende!“
„Nein. Es geht zum Weiterarbeiten.“
„Ich fahre oft Workaholics.“
„Bitte?“
„Glauben Sie mir, so viel Arbeiten, das ist nicht gut. Echt nicht Gut. Was sagt da Ihr Mann?“
„Mein….? Ich…also.“
„Stört es Sie, wenn ich kurz meine Frau anrufe?“
„Ihre…? Nein, natürlich nicht.“

Der Taximann nimmt sein Handy. Es folgt ein knappes Gespräch über Abholungszeiten. Dann sagt er: “Ja, bis später, ich hab hier Kundschaft. Also. Wo waren wir? Ach ja, Ihr Mann. Haben Sie Kinder?“
„Ich?
„Ja.“
„Nein. Keine Kinder. Kein Mann und der Hund ist auch schon tot.“
„Das kommt davon, wenn man so viel arbeitet. Dann hat man sich nichts mehr zu sagen. Dann gehen die Gemeinsamkeiten dahin. Kinder, naja…kann ja noch kommen. Wie lang waren Sie denn zusammen?“
„Lang. Neun Jahre!“
„Neun Jahre! Da hat er es aber echt lange ausgehalten!“
„Bitte? Ich…“
„Ohne Kinder hat das Leben keinen Sinn. Wofür lebt man denn ohne Kinder? Was haben Sie von Ihrer ganzen Arbeit? Ohne Kinder würde ich gar nicht arbeiten. Aber so. Was ist das denn für ein Leben? Nee. Völlig sinnlos, ohne Kinder.“
„Hören Sie, es ist Freitagnachmittag, die Sonne scheint. Ich rolle einem Arbeitswochenende entgegen, habe Sorge, dass die Bahn wieder spinnt und bekomme noch rasch mitgeteilt, dass mein Leben völlig sinnlos ist. Eigentlich können Sie mich direkt AUF den Gleisen absetzen.“
„Hahaha, aber nun sagen Sie doch selbst! Ich habe schon viel gearbeitet. Glauben Sie mir. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe so viel gearbeitet, da können Sie gar nicht mithalten!“
„Da wäre ich vorsichtig! Die Battle nehme ich an!“
„Haha. Wie alt sind Sie?“
„Fast 45.Und Sie?“
„36.“
„Dann wissen Sie jetzt auch, dass das mit dem kinderreichen Sinn meines Lebens nichts mehr wird.“
„Manche Frauen bekommen noch mit 60 Kinder.“
„Ich nicht. Ich WILL auch gar keine Kinder.“
„Das ist ein sinnloses Leben. Wirklich. Sie sollten nicht so viel arbeiten. Dann hätten Sie jetzt auch Kinder. Neun Jahre! Mit dem Mann wollten Sie doch alt werden! Man ist nicht neun Jahre zusammen, wenn man nicht zusammen alt werden will. Aber es ist sinnlos geworden. So ist das. So geht das dann.“

Für einen Moment wird mir flau, obwohl ich vergnügt bin. Natürlich ist es Spaß. Natürlich ist es ernst. Natürlich ist mein sinnloses Leben nicht sinnlos.

„Macht 14,35“
„Ich brauche eine Quittung. Wie heißen Sie?“
„Cengiz.“
„Wie Dschingis Khan?“
„Genau.“
„Also D-S-C-H-I ….“
„Nee. Ich schreibs Ihnen auf.“

Cengiz
„Cengiz, werden Sie doch bitte Hamburgs erstes Coaching-Taxi. Dann können Sie das Zehnfache dafür abrechnen, dass Sie Menschen wie mich als rotierende Insel im Meer der Sinnlosigkeit entlarven.“

Ich muss sehr lachen. Cengiz ist so vergnügt wie schon zu Fahrtbeginn.

„Das ist eine gute Idee! Eine gute Idee! Und denken Sie mal drüber nach! …
(Hab ich, Cengiz!)
…das Leben ist zu kurz …
(Ich ahne es, Cengiz!)
…und jetzt wünsche ich Ihnen auf jeden Fall ein schönes Wochenende.“
(Ich mir auch, Cengiz, ich mir auch)

Einen Schritt weiter

Nach eineinhalb Stunden Stadtfußmarsch bin ich plötzlich matt. Als wisse er es, schickt mir der Asphalt eine Botschaft: „Es ist nicht mehr weit“.
Meine Füße sehen es anders. U-Bahn-Station „Schlump“ (ja, auch dafür liebe ich Hamburg) ist in Sichtweite. Ich könnte mich in die Bahn setzen. Noch ein wenig ins Anderswo fahren. Fahren. Fahren ist Sitzen ist Gucken ist Ruhen ist schön. Ich komme näher und sehe Menschentrauben an der Bushaltestelle vorm U-Bahn-Eingang. „Heute Schienenersatzverkehr“. Das ist ein Wort, das mich so abschreckt wie Menschentrauben. Hastig eile ich vorbei.
Wenige Meter dahinter halte ich plötzlich an, gehe an den Fahrbahnrand und strecke in bester Anhaltermanier den Daumen empor. Zu meiner eigenen Überraschung. Zu meiner weiteren Überraschung fährt SOFORT ein Auto rechts in die Toreinfahrt hinter mir und hält an. Unsicher drehe ich mich um. Der meint mich. Ich geh hin, öffne die Beifahrertür und gucke hinein.
„Meinste das ernst?“ fragt lachend ein bärtiger Jungmann.
„Bist du ein Mörder?“ frage ich zurück. Er überlegt tatsächlich kurz.
„Heute nicht.“
Ich steige ein.
„Bin unterwegs nach Stellingen.“
„Ich eigentlich nicht. Mir reichts drei Ampeln weiter.“
Das Auto riecht nach Duftbaum, obwohl ich keinen sehe. Himbeer. Oder Kirsch. Die dritte Ampel ist erreicht, bevor ich mich entscheiden kann.
Lächeln, verabschieden, aussteigen. Wie der wohl ohne Bart aussieht? Und ob der Bart nach Himbeer riecht (oder Kirsche)?
Ich gehe weiter.
Das erste Hummelsummen! Ab JETZT ist Frühling. Dazu passt der Löwenzahn am Fuße der Treppe des Hauses, das ich passiere. Das mag ich so am Leben: es blüht selbst dort, wo es marktstrategisch unklug ist.

Gründonnerstagabend

Die halbierte Tomate auf meinem Feldsalat leuchtet mit ihrer Rundung aus der Mitte des Tellers.
„Selbst mein Salat hat eine rote Nase!“ huscht es mir durch den Sinn.

Über mir übt der Opernsänger. Ich sehe ihn immer im Bademantel vor mir. Einem weißen, schneeweißen Bademantel aus dickem Frottee, auf dem gülden und fein „Waldorf Astoria“ steht. Zwei passende Gästetücher hängen im Gästeklo. Tatsächlich hat der Bademantel eine Brusttasche, aus der leicht angeknüllt ein blaukariertes Stofftaschentuch guckt. Heute singt er treppauftreppab „Hahaaaaahaaaaaahaaaaaahaaaaahaaaaa“. Seine Wohnung hat Dielenboden wie die meine, aber fast alles ist ausgelegt mit dünnen Teppichen aus Chinaseide. Nur da, wo er übt liegt ein Flokati, in den er seine behaarten Zehen krallen kann, wenn er von einer Oktave in die nächste springt. Donnerstagabends ist seine Muse da, fläzt im Sessel und blättert in Harper‘s Bazaar. Das ist sophisticated. Niemand liest wirklich in Haper‘s Bazaar. Aber eine Muse kann nicht Brigitte lesen oder Donna. Nicht mal die ELLE. Leider hat sie eine Schwäche für einen billigen Wein aus dem REWE City gleich um die Ecke. Manchmal stört ihn das.
Wenn er die Tonleiter schneller singt, verrutscht der Gürtel am Bademantel. Er schenkt dem keine Beachtung. Aber ich sehe bis in meine Küche den verstohlenen Blick der Muse und dieses leichte Kräuseln auf ihrem Nasenrücken. Ob er jemals wirklich im Waldorf Astoria war? Nachdenklich stelle ich meinen Teller beiseite. Über mir wird es still. Ich habe die Nase nicht aufgegessen.