Frühstück mit Bob Dylan

Tag 1

Ein großes Hotel in Berlin. Sehr groß. Und hoch.

Am Frühstückstisch gegenüber sitzen Bob Dylan und Helga Feddersen. Beide im Safari-Look großstadterkundungswilliger Rentner. Bob hat einen Teller mit einem großen Berg Rührei vor sich. Ein sehr großer Berg. Daneben ein Teller mit Vollkornsemmel, Käse, Tomate, Wurst und einen Orangensaft. In der Mitte des Rühreiberges thront obenauf eine halbe geschmorte Tomate. Bob trägt Gabel für Gabel den Berg vom Rand her ab. Die Akribie, mit der er das tut, ohne dass dabei die Tomate in der Mitte abrutscht oder auch nur ins Wanken gerät, deutet auf wiederholte Anwendung der Esstechnik hin. Helga hat Obst gewählt und, der Konsistenz nach zu urteilen, Quark. Ein Glas Orangensaft und ein Glas Multivitaminsaft. Sie taucht den Kaffeelöffel tief in das Zuckertöpfchen. Gleich wird sie das vermeintlich gesunde Frühstück kalorisch durch die Schallmauer jagen. Zu meiner Überraschung landet der Zucker im Saft. Ein Löffel, zwei Löffel, drei Löffel. Pro Glas! Ich vergesse zu essen und vermutlich auch, den Mund wieder zu schließen. Bob hat inzwischen das Ei um die Tomate herum nahezu vollständig verzehrt. Es ist noch ein kleiner Rest genau unter dem Nachtschattengewächs, welches immer noch kerzengerade in der Mitte des Tellers ruht. Gleich kommt der triumphierende Moment. Bob wird zum Messer greifen und das Herzstück seines Eiberg-Arrangements halbieren und den Teller ei- und tomatenrückstandsfrei beiseite schieben. Ich starre. Helga trinkt ihre Säfte nacheinander in gierigen Zügen aus. Bob nimmt die Serviette, tupft seine Lippen ab. Das Messer. Jetzt. Er hebt es an. Ich kann vor Aufregung kaum atmen. Er legt es neben die Gabel auf den Teller. Die Tomate: unangetastet. Ich starre. Nunmehr fassungslos. In Helgas Mundwinkel klebt Fruchtfleisch. Ich werde den ganzen Tag grübeln müssen.

Tag 2

Bob und Helga essen heute Obst und Quark. Beide. Große, tiefe Teller. Randvoll. Die Löffelbewegungen haben etwas vom Zuschnappen einer Schlange. Mir schräg gegenüber sitzt ein kleiner, reichlich alt aussehender Japaner (ich gehöre zu den Menschen, die sich einbilden, Japaner und Chinesen voneinander unterscheiden zu können). Das Obst auf seinem Teller isst er tatsächlich mit Messer und Gabel. So ruhig und konzentriert, als ordne er die Teile eines Mandalas neu. Es irritiert mich leicht, dass er Milchkaffee trinkt. Würde man in der Sesamstraße die Begriffe Gier und Achtsamkeit erklären wollen – ein Blick an diese beiden Frühstückstische neben mir reichte. Ich versuche mein Esstempo dem Japaner anzupassen und merke, es macht mich nervös. Achtsamkeit ist anstrengend. Je mehr ich versuche etwas von der Melone zu schmecken, desto weniger schmecke ich. Weil ich feststellen muss, dass sie tatsächlich nach gar nichts schmeckt. Ich blicke zu Bob. Inzwischen hat er nachgelegt: zwei Croissants neben einem Marmeladenberg. Bob ist bergaffin. Mein Blick trifft den des Japaners. Er sieht mir direkt ins Gesicht. Seine Mimik regt sich nicht und doch wirkt er, als ob er mir etwas mitteilen wolle. Bestimmt eine Morgenweisheit. Bestimmt etwas Zukunftsweisendes. Ich höre seine Stimme wie die von Yoda in meinem Kopf: Reich der Morgen ist! Möge die Macht mit dir sein! Filmmusik braust auf. Meine Augen zoomen zurück in die Realität. Der Japaner faltet seine Serviette. Steht auf. Er dreht sich weg um zu gehen. Hält inne. Dann dreht er sich um, und kommt direkt auf mich zu. Lächelnd. Du liebe Güte! Sein Finger berührt meine Nasenspitze und streicht darüber. Ist das so etwas wie der japanische Weisheitssegen? Perplex glotze ich. Der Japaner aber drückt seinen Finger in die Serviette auf dem Tisch, kichert und sagt „Quark!“, bevor er sich umdreht und geht.

Schwimmerin der Herzen

Sundschwimmen.
Ich friere. Ich bin klamm. Ich friere und ich bin klamm. Warum war ich doch gleich auf die Idee gekommen, den Strelasund durchschwimmen zu wollen? Der Himmel ist bewölkt, es nieselt leicht, die Luft ist feucht und lau. 23°C sagt das Morgenthermometer. Das Wasser soll, zumindest am Rand gemessen, nur geringfügig kühler sein. In der Mitte wird der Sund höchstens mit 16°C aufwarten.
Beim Sundschwimmen ist kein Neopren erlaubt. Allenfalls einschmieren mit Vaseline. Ich friere. Warum bin ich nochmal hier? Ich bin überhaupt nicht sportlich. Ich kann nur Brustschwimmen. Ich habe Kälte-Urtikaria und werde vermutlich rot angelaufen im Wasser sterben. In einem natürlichen Gewässer habe ich zuletzt als Kind geschwommen. Selbst in Schwimmbädern halte ich es nicht für unmöglich, einem Hai zu begegnen. Und jetzt 2,3 km schwimmen durch den Sund? Es ist mir egal, dass ca. 1000 andere Schwimmer mit mir im Wasser sein werden. Der gemeine Ostseehai wird zielsicher meinen Fuß aussuchen. Das weiß ich!
Ich habe wenig trainiert. Am Anfang des Jahres, als ich mich am 1.1.2012 angemeldet hatte, ging ich enthusiastisch ins Schwimmbad. Dann nicht mehr. Dann die letzten vier Wochen panisch. Im Schwimmbad habe ich es immerhin geschafft über eine Stunde am Stück sorgsam meine Bahnen zu ziehen. Ich denke, eine Stunde im Wasser werde ich auch hier gleich verbringen. Gleich … gleich … das Warten auf den Beginn des Schwimmens zieht sich endlos. Ich würde gerne Kuchen essen. Oder einen dicken Teller Pasta. Um mich herum essen alle Bananen und trinken literweise Wasser. Wenn die gleich im Wasser alle mal müssen und ich bin hinter denen … ich denke das nicht zuende.
Und dann kommt plötzlich Bewegung ins Spiel:
Die Busse, die uns vom Strandbad nach Rügen zum Startpunkt bringen sind rappelvoll. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass mir warm wird. Die Regenhaut klebt am Körper. So könnte ich jetzt sitzenbleiben. Kaum haben die Busse angehalten, werde ich mit der Masse aller Mitschwimmer Richtung Uferwiese gespült. Schnell die Klamotten in eine Plastiktüte gestopft, den Körper mit Vaseline eingeschmiert, Klamottentüte zum Sammel-Lkw und ab geht es. Als ich am Uferstieg ankomme sehe ich auf einem der Boote das Schild „Noch drei Minuten bis zum Start“. Bei weitem nicht alle Schwimmer sind im Wasser, es staut sich etwas. Dem nassen Element langsam zu begegnen ist nicht möglich, ständig schieben sich von hinten neue Badekappenträger nach. Mir bleibt noch „Fühlt sich kälter als gedacht an!“ zu denken, dann höre ich den Startschuss und alles um mich herum juckelt los. Und ich mit.
„Lemming!“, denke ich und stürze mich kopfüber ins Wasser. Die kraulenden Schwimm-Cracks sind zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon jenseits des ersten Drittels, ich hingegen suche in dem von 935 Schwimmern aufgepeitschten, wogenden Wasser brustschwimmend nach meiner Luft, nach meinem Tempo. Es ist irre anstrengend, von der ersten Sekunde an. Nicht nur die Kälte wird mein Feind sein, das ist mir flott klar. Es fühlt sich an, als käme ich gar nicht vorwärts. In der Hektik des Startgetümmels hatte ich versäumt die Bojen-Markierung Richtung Ziel in Augenschein zu nehmen. Jetzt paddle ich wie jeck sämtlichen gelben Käppis hinterher, ohne so recht zu wissen, wo es lang geht. Rechts von mir kann ich die DLRG-Boote erkennen, manchmal entdecke ich irgendwo weit links eine Boje. „So lang du Käppis siehst, ist alles ok!“, denke ich und kümmere mich nur um meinen ganz persönlichen Wasserkampf.
Das Wasser wird schnell kälter. Ich friere, obwohl ich so schnell schwimme, wie ich eben kann. Algen streifen meine Beine. Immerhin kein Hai. Irgendwie hat mein Körper der Temperatur nichts entgegenzusetzen, ich fühle mich wie in einem Alptraum: je kälter ich mich fühle, desto langsamer werde ich. Je langsamer ich werde, desto kälter fühle ich mich. Irgendwo neben mir wird jemand in ein Boot geholt. Ich sehe nur wenig, meine Schwimmbrille ist fast komplett beschlagen. Käppis, obgleich neongelb, sind kaum noch auszumachen. Ich stoppe, versuche im wippenden Wasser die Brille zu entnebeln und wieder aufzusetzen. Es gelingt leidlich. Ohne Schwimmzüge spüre ich die Nadelstiche auf meiner Haut. Im dunkelgrünen Wasser kann ich das Rot nur erahnen, das mich ziert.
„Kein Körper kann 60 Minuten Histamin ausschütten!“ hoffe ich inständig.
Ich sehe immerhin wieder Käppis und nehme die Verfolgungsjagd auf. Ich friere. Und ich weiß nicht einmal annähernd, wo ich bin, wie weit ich noch muss, das andere Ufer ist irgendwo.

„In der Mitte des Sunds wirst du dich fragen, warum du den ganzen Blödsinn überhaupt machst!“, hatte man mir prophezeit. Ich frage mich das seit ich losgeschwommen bin. Konzentrieren!
Atmen! Atmen! Atmen!
Meine Arme zittern.
Wieder wird jemand vor mir vom DLRG aus dem Wasser geholt. Ich will auch. Ich will meine hummerrote Urtikariahand heben und in eine Kuscheldecke mit eingebauter Thermosocke! Sofort! Aber in dem Moment sehe ich das erste Mal das Ziellicht am anderen Ufer. Es ist mir unmöglich mit der beschlagenen Brille auszumachen, wie weit das noch sein mag. Aber ich kann es sehen!
Vergiss die Kuscheldecke!
Ankommen!
Ankommen ist alles!
Schwimmen. Atmen.
Das Licht kommt nicht näher, so scheint es.
Schwimmen, atmen, schwimmen.
Es muss doch irgendwann vorbei sein. Dann ist Wasser in der Brille. Das salzige Wasser brizzelt in den Augen. Mir ist jetzt alles wurscht, dann wird eben der Rest ohne Brille geschwommen, mit hochgerecktem Hälschen. Ich nehme die Brille von den Augen und erblicke wenige Meter vor mir: Beine! Alle anderen gehen längst auf das Ufer zu. Ich bin die einzige, die noch wie eine Kaulquappe bäuchlings im knietiefen Wasser paddelt. Die Uferregion ist erreicht, die Treppe zum Strandbad in Sicht! Ich taste mit den Beinen unter mich und fühle den weichen Sandboden. Aufzustehen klappt erst im dritten Anlauf, so puddingweich sind meine Beine. Dann die Zeitmessung, ich bin durch! Jemand wickelt meinen flammendroten Eiskörper in ein Handtuch und drückt mir heißen Tee in die Hand.
Ich weiß nicht genau wie, aber ich bin angekommen!

Die Haie haben mich nicht bemerkt …

Liftmoment

Der Tag war lang. Nach einer wenig erquicklichen Zugfahrt komme ich wohlbehalten im Hotel an. Ja, mein Zimmer ist reserviert.
Ja, ich muss nichts mehr ausfüllen.
Ja, man wünscht mir einen angenehmen Aufenthalt.
Man sei 24 Stunden für mich da. Das war nicht mal bei Mutti der Fall.
„Die Aufzüge finden Sie dort hinten links.“, sagt der Mann aus dem 24 Std.-Team.
Das ist gut.
Ich gehe gerne Treppe, aber nicht in den 7. Stock.
Bling. Lifttür auf, ich rein, Lifttür zu.
Ich drücke die 7. Der Lichtring um den 7-Knopf blinkt kurz. Nichts bewegt sich. Ich drücke nochmal. Kurzes Blinken. Stille. Hm. Puh.
Drücken.
Blinken.
Drücken.
Blinken.
Der Lift steht. Das alles wirkt nicht, als läge ein technischer Fehler vor. Aber sich nicht in Bewegung setzende Aufzüge haben eindeutig ihr Zielaufgabe verfehlt.
Drücken.
Blinken.
Stille.
Ich gehe kurz auf und ab. Vielleicht ist das ein Siri-Lift und ich muss sprechen? Ich sage: „Siebter Stock!“ Nichts geschieht. Nicht mal eine Antwort.
„Siebter Stock, bitte!“
Stille.
Ich drücke den Türöffner und trete aus dem Lift. Drücke den Aufzugknopf auf der gegenüber liegenden Seite, wo sofort der nächste Lift seine Türen öffnet.
Ich hinein. 7 drücken.
Blinken.
Nichts passiert.
Drücken.
Blinken.
Drücken.
Blinken.
Und ja, ich versuche mein Glück sogar noch im dritten der vier vorhandenen Aufzüge; hoffend, dass niemand aus dem Restaurantbereich mein Treiben verfolgt.
Mir ist klar, es liegt an mir. Ich weiß, es liegt an mir. Aber ich weiß nicht, warum. Ich meine, was kann man in einem Lift anderes machen, als den Etagenknopf drücken? WAS? Diese jammervolle Erkenntnis, dass ich jetzt wieder aussteigen und zur Rezeption gehen muss. Um dort garantiert eine derart simple Erklärung zu bekommen, dass es mir Tränen und Schamesröte und alles Mögliche ins Gesicht treiben wird!
„Ich….bitte…also ihre Aufzüge…funktionieren die irgendwie anders, als andere Aufzüge?“ Der Mann, der 24 Stunden für mich da ist, lächelt gütig: „Sie müssen einmal die Zimmerkarte durch den Scanner ziehen. Direkt unter den Knöpfen. Erst scannen, dann Etage wählen.“
Ja, logisch!
Natürlich!
Also, bitte.
Das versteht sich wirklich von selbst.
Mir schwant, warum es gut ist, dass in diesem Hotel rund um die Uhr jemand für mich da ist. Für mich. Nur für mich. Ja.
Ein klein wenig matt gehe ich zurück zum Lift. Ein älteres Ehepaar, das eben erst eingecheckt hat betritt vor mir den Aufzug. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, blickt der Mann kurz auf die Etagenknopf-Auswahl, zieht seine Zimmerkarte durch den Scanner und wählt die 5.
Mir ist wirklich nie nach Cognac.
Aber jetzt!

Kassenschlangenmoment – mal wieder

„Eine vierte Kasse bitte!“

Supermarkt Hoheluftbrücke.
Dank des direkt daneben befindlichen Eingangs zur Hochbahn trifft hier zu jeder Tageszeit alles zusammen, was sich sonst nie begegnet: betagte Studenten und hochbegabte Rollatorgreise, dröge Agenturscouts und hippe Banker, Mütter und Muddis, Papas und Erzeuger.
19:30, der Boden vibriert. In der Kundschaft Arme ruhen vier bis fünf Artikel, ehe sie aufs Band gelegt werden: Chips und Bier, abgepacktes Sushi, Sojaschnetzel und Topinambur.
Ich habe Platz drei in der Schlange der 4.Kasse ergattert. Die ersten Waren, die über den Scanner gezogen werden, gehören einer auffallend hübschen und zarten Frau. Sie zählt zu jenen, bei denen niemand verwundert ist, wenn sie plötzlich von einem Fremden Blumen geschenkt bekäme. Rechts neben ihr ein kleines, braungeschopftes Mädchen, vielleicht fünf, das den offensichtlich mutterkontaktsuchenden, jüngeren Bruder (max. drei) stoisch abwehrt.
„Actimel?“
Der Junge schaut seine Schwester an.

Belustig glaube ich mich verhört zu haben. Actimel? Kinder quengeln an Kassen nach Actimel? Gott…ich bin ECHT alt.

„Willst du eins?“ fragt das Mädchen mit klapperschlangiger Süße. Der Bruder nickt.
Und noch bevor die besonnene Mutter reagieren und die erbetene Actimel-Gabe auf „draußen / im Auto / zuhause /den Geburtstag“ oder einfach später verschieben kann, schnappt die Klapperschlange gezielt zu: „Tja. Hier hab ich kein Actimel!“
„KEIIIIIIN ACTIMEEEEEELLLLL?“
Die Stimme des Jungen kippt in den Tonfall jener hysterischen Mittzwanzigerinnen, deren anvisiertes Paar Designerpumps es nur zwei Nummern kleiner gibt.
Die Augen weit aufgerissen vor Schmerz und Fassungslosigkeit, bricht er dramatisch vor der Kasse zusammen.
„ACTIMEEEEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEEEEL!“
In endloser Schleife pressen die kleinen Lippen den Joghurtnamen hervor.
Tief holt er Luft, tiefer und tiefer, um umso lauter, gequälter und wie ein ins Rückenmark Getroffener zu brüllen: „ACTIMEEEEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEL!“
Die Kassiererin ist erschüttert. Sie steht auf, versucht einen Blick auf das Kind zu erhaschen. Ihr als Trost gemeinter Satz kommt einer verbalen Steinigung gleich: „Guck mal, an der Kasse gibt es doch kein Actimel. Aber einen Lolli!“
Der Sterbende, eben noch halb sitzend, rollt sich nun ein wie eine Kugel. Der kleine Körper zittert und aus der Mitte der Kugel röhrt schauerlich und herzzerreißend: „ACTIMEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEL!“

Während die Schwesterschlange ungerührt die wenigen Lebensmittel in eine Tüte packt, forciert die Mutter den Bezahlvorgang mit flehendem Blick.
„ACTIMEEEEEEEEEEL! KEIN ACTIMEEEEEEEEEEEEEL! ACTIMEEEEEEEEEEEL!“
Schnell wechseln Scheine den Besitzer, wandert die Geldbörse zurück in die Handtasche. Behände greift die Mutter den Bub, der sich in ihren Armen aufklappt und alle Viere schlapp herabhängen lässt.
„ACTIMEEEEEEEEEL!“ tropft es aus dem hochroten Kopf. „ACTIMEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEL!“

Die Schiebetür geht auf. Schließt sich. Stille.

An den Kassen sekundenlanges Schweigen, selbst die Kassiererinnen halten gleichzeitig inne und atmen leise. Alle starren einander an. Mundwinkel aufwärts.
Ein Kunde betritt den Laden.
„ACTIMEEEEEEEEEEL“ tönt es aus den Tiefen des Hochbahn-Gängelabyrinths.

Ich glaube, der Joghurt hat Potenzial.

Der Taxi Coach

Freitagnachmittag. Es geht nicht in den Feierabend, es geht nach Berlin. Seminarwochenende. Mein Trapeziusmuskel ist angespannt. Schließlich reise ich mit der deutschen Bahn. Auf der Strecke Hamburg-Berlin-Hamburg ging das bisher noch nie – ich betone: noch nie – glatt. Das Taxi immerhin ist überpünktlich. Durch das Schaufenster sehe ich allerdings, dass der Fahrer zum Wohneingang des Hauses geht, nicht hier zur Ladentür. Ich gehe hinaus.

„Sie suchen vermutlich mich.“
Der Taximann dreht sich um. Ich bin verdutzt. So viel Freude in einem Gesicht hatte ich, zumindest bei Taxifahrern, lange nicht.
„Frau Strang?“
„Ja.“
„Na, dann los!“
„Bahnhof Altona.“
„Ah. Es geht heim ins Wochenende!“
„Nein. Es geht zum Weiterarbeiten.“
„Ich fahre oft Workaholics.“
„Bitte?“
„Glauben Sie mir, so viel Arbeiten, das ist nicht gut. Echt nicht Gut. Was sagt da Ihr Mann?“
„Mein….? Ich…also.“
„Stört es Sie, wenn ich kurz meine Frau anrufe?“
„Ihre…? Nein, natürlich nicht.“

Der Taximann nimmt sein Handy. Es folgt ein knappes Gespräch über Abholungszeiten. Dann sagt er: “Ja, bis später, ich hab hier Kundschaft. Also. Wo waren wir? Ach ja, Ihr Mann. Haben Sie Kinder?“
„Ich?
„Ja.“
„Nein. Keine Kinder. Kein Mann und der Hund ist auch schon tot.“
„Das kommt davon, wenn man so viel arbeitet. Dann hat man sich nichts mehr zu sagen. Dann gehen die Gemeinsamkeiten dahin. Kinder, naja…kann ja noch kommen. Wie lang waren Sie denn zusammen?“
„Lang. Neun Jahre!“
„Neun Jahre! Da hat er es aber echt lange ausgehalten!“
„Bitte? Ich…“
„Ohne Kinder hat das Leben keinen Sinn. Wofür lebt man denn ohne Kinder? Was haben Sie von Ihrer ganzen Arbeit? Ohne Kinder würde ich gar nicht arbeiten. Aber so. Was ist das denn für ein Leben? Nee. Völlig sinnlos, ohne Kinder.“
„Hören Sie, es ist Freitagnachmittag, die Sonne scheint. Ich rolle einem Arbeitswochenende entgegen, habe Sorge, dass die Bahn wieder spinnt und bekomme noch rasch mitgeteilt, dass mein Leben völlig sinnlos ist. Eigentlich können Sie mich direkt AUF den Gleisen absetzen.“
„Hahaha, aber nun sagen Sie doch selbst! Ich habe schon viel gearbeitet. Glauben Sie mir. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe so viel gearbeitet, da können Sie gar nicht mithalten!“
„Da wäre ich vorsichtig! Die Battle nehme ich an!“
„Haha. Wie alt sind Sie?“
„Fast 45.Und Sie?“
„36.“
„Dann wissen Sie jetzt auch, dass das mit dem kinderreichen Sinn meines Lebens nichts mehr wird.“
„Manche Frauen bekommen noch mit 60 Kinder.“
„Ich nicht. Ich WILL auch gar keine Kinder.“
„Das ist ein sinnloses Leben. Wirklich. Sie sollten nicht so viel arbeiten. Dann hätten Sie jetzt auch Kinder. Neun Jahre! Mit dem Mann wollten Sie doch alt werden! Man ist nicht neun Jahre zusammen, wenn man nicht zusammen alt werden will. Aber es ist sinnlos geworden. So ist das. So geht das dann.“

Für einen Moment wird mir flau, obwohl ich vergnügt bin. Natürlich ist es Spaß. Natürlich ist es ernst. Natürlich ist mein sinnloses Leben nicht sinnlos.

„Macht 14,35“
„Ich brauche eine Quittung. Wie heißen Sie?“
„Cengiz.“
„Wie Dschingis Khan?“
„Genau.“
„Also D-S-C-H-I ….“
„Nee. Ich schreibs Ihnen auf.“

Cengiz
„Cengiz, werden Sie doch bitte Hamburgs erstes Coaching-Taxi. Dann können Sie das Zehnfache dafür abrechnen, dass Sie Menschen wie mich als rotierende Insel im Meer der Sinnlosigkeit entlarven.“

Ich muss sehr lachen. Cengiz ist so vergnügt wie schon zu Fahrtbeginn.

„Das ist eine gute Idee! Eine gute Idee! Und denken Sie mal drüber nach! …
(Hab ich, Cengiz!)
…das Leben ist zu kurz …
(Ich ahne es, Cengiz!)
…und jetzt wünsche ich Ihnen auf jeden Fall ein schönes Wochenende.“
(Ich mir auch, Cengiz, ich mir auch)