Volltanken.
Zahlen.
Jetzt aber los.
Noch rasch etwas einkaufen. Die Scheiben sind so dermaßen verklebt von den Linden. Ich greife zum Scheibenputzer und beginne zu wischen. Ein einziges Geschmiere. Also ran an den Schwamm. Meine Güte, klebt das. Da muss man richtig schrubbeln. Wie konnte ich überhaupt noch etwas sehen auf den Fahrt?
Verklebte Scheiben fühlen sich beim Reinigen doppelt so groß an. Langsam löst es sich. Ulkig. Mir ist noch nie aufgefallen, dass meine Frontscheibe oben grün abgetönt ist. Käse darf ich nicht vergessen! Und Kaffeefilter hab ich auch nur noch zwei. Irgendwas anderes war noch. Ich komm nicht drauf! Meine Unfähigkeit, Einkaufszettel zu schreiben, rächt sich regelmäßig.
So! Sauber ist’s! Sehr schön!
„Danke sehr! Wusste gar nicht, dass es hier mit Service ist.“, sagt eine freundliche Endfünfzigerin und drückt mir zwei Euro in die Hand. Ich höre Türschlösser klacken. Sie steigt ein. Als die Fahrertür zufällt, verstehe ich endlich, dass mein Auto eine Zapfsäule weiter steht.
Posturlaubs-Profilneurose.
Ich betrete die Parfümerie.
„Guten Tag, ich hätte gerne ein Gesichtswasser ohne.“
„Ohne Alkohol? Gerne. Das hätte ich Ihnen auch empfohlen.“
„Nein, ohne Kohlensäure.“
„Ohne Kohlensäure?“
„Ja. Stilles Gesichtswasser, bitte.“
„Stilles Gesichtsw…?“
„Sonst habe ich epidermales Aufstoßen. Sehr unangenehm. Haben Sie auch Reinigungsmilch?“
„Sie….wir….ja.“
„Laktosefrei?“
„Das ist ….“
„Ich seh schon. Sie haben nicht einmal Nährwertangaben auf der Verpackung. So eine Nachtcreme hat doch locker 500 Kalorien!“
„Ich glaube Sie …“
„So kommen wir nicht zusammen. Aber Danke für die Mühe.“
Unter Linden
Glück gehabt. Im Eckchen unter den altehrwürdigen Bäumen vor dem Café sind noch zwei kleine Bistrotische frei. Ich nehme auf der Bank Platz, studiere die Karte, obwohl ich längst weiß: heute wird es der Crumble! In Vanillesoße. Viel Vanillesoße.
Ein Tischchen weiter bestellen zwei junge Männer. Ein französisches Frühstück und ein Müsli. Ein kleines Frühstück und Ei mit Speck. Natürlich Milchkaffee. Natürlich Wasser extra. Der Kleinfrühstücker (der tatsächlich unglaublich klein ist. Nennen wir ihn also der Einfachheit halber Kleiner) guckt auf seine große, offenbar neue Armbanduhr. Der Französischfrühstücker (kurz: Franz) sitzt mir zugewandt auf der Bank. Blond ist er. Blass und blond. Mit einer dunkelblauen Joppe, an deren Revers ein kleines Abzeichen befestigt ist. Die Sorte Jacke, die ich Joppe nenne, wird normalerweise von Mittfünfzigern getragen, deren letztes, unsichtbares modisches Aufbegehren ein Wechsel von Feinripp zu Microfaser war. Frisur und Joppe von Franz wirken ausbalanciert. Den Haarschnitt hat er vermutlich, seit er sechs ist. Die Haut ist zu trocken, leicht schuppig, das Gesicht wirkt so kariert, wie sein Hemd. Die Chinos royal , was die Knöchel noch weißer aus den Turnschuhen ragen lässt. Keine Socken. Auch nicht die Sneakervariante. Franz ist groß. Auf der Bank, die eine gute Sitzhöhe macht, ragt er wie ein blassblauer Kranich über die Tischkante. Ich hätte nicht viel Zeit auf seine Betrachtung verschwendet, wäre da nicht sein Nasenpiercing gewesen. Ein blassblauer Kranich mit Nasenpiercing. In Joppe. Ich starre.
Franz ist nicht verwegen. Kein Rebell. Seine Fingernägel sind nicht abgekaut; nur kantig geschnitten. Er wirkt nicht intellektuell und ist es, der Sonnenbrille nach, die auf dem Tisch liegt, auch nicht. Der Wahl der Begleitung nach im Übrigen auch nicht.
Der Kleine sitzt im ihn noch kleiner machenden Gartenstuhl und hat Mühe, die Ellenbogen auf dem Tisch zu platzieren. Das Bein kolibrigleich wippend. Die Haare im Unifriseurfaconschnitt. Gegeelt. Akkurat. Die Haut gebräunt. Auf seiner Stirn regt sich nichts, wenn er spricht. Manchmal möchte die linke Braue ausbrechen, aber ehe sie Fahrt aufnehmen kann, leert sich sein Blick und zwingt die Mimik zurück in die Bedeutungslosigkeit. Mein Fokus wechselt zwischen Franz‘ Piercing und der Armbanduhr des Kleinen. Nichts passt.
Das Frühstück kommt. Franz ist konsterniert. Wer konnte auch ahnen, dass sich hinter einem französischen Frühstück ein Croissant mit Butter und Marmelade verbirgt. Und nichts sonst. Das kleine Frühstück des Kleinen prahlt mit Brötchen und Brot und reichlich Belagauswahl. Für wenige Cent mehr. Franz schnauft. Er wirkt noch blasser. Das Piercing kranichmatt. Einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass die Joppe etwas sagen möchte. Sie schweigt.
Ein Punker kommt vorbei, haarig und animalisch, wie ein Ork. Es ist ein Ork.
Der Kleine rückt sein Frühstück in Szene. Die Hände tänzeln. Das Rührei, derb und reichlich, lässt ihn aus dem zu tiefen Sesselchen wachsen. Franz sieht dem Ork nach. Mein Crumble wird serviert und verströmt warmen Zimtduft. Da geschieht es: der Kleine hebt flink seinen Arm und leckt einmal mit der Zunge über seine Uhr. Greift die Serviette und poliert das bespeichelte Glas. Franz dreht sich zurück zum Tisch und seufzt auf das Croissant. „Ja, dann…!“, sagt er.
Ich tauche den Löffel tief in die Vanillesoße und lächle. Unter den Linden.
Daneben liegen.
Der 4.Stock scheint viel weiter oben zu sein.Es liegt bestimmt an den Temperaturen. Puh. Und noch eine Treppe. Selbst die Tür ist nicht, wo sie war. Ich stelle das gar nicht recht in Frage. Rechts oder links (normalerweise habe ich Mitte). Also links. Wie ich versuche, den Schlüssel ins Schloß zu stecken, wird mir kurz noch heißer, als mir eh schon ist. Falscher Stock! Ich bin bis in den 5. gestiegen. Hier gibt es nur den Opernsänger und den Speicher.
„Ja, bitte?“
Die Tür geht auf, erschrocken ziehe ich den Schlüssel zurück.
„Oh. Äh.“
„Ja?“
Er trägt keinen weißen Badenmantel. Er steht nicht auf einem Flokati. Er ist kleiner als gedacht.
„Falsche Tür.“
„Wo wollten Sie denn hin?“ Er lächelt.
Die Papiereinkaufstüte in meiner anderen Hand knistert. Ich muss den Käse weg tun!
„In den Kühlschrank.“ sage ich.
Der Opernsänger lacht.
„Da sind Sie bei mir unterm Dach aber ganz falsch.“
„Ja. Jaja. Ich wohne unten.“ sage ich, während ich mich schon drehe, um zu entkommen.
„Schönen Abend!“
„Äh…ja…danke.“
Meine Wohnungstür schließt sich sanft hinter mir. Zwanghaft schamgepeinigt wiederholt mein Gehirn die Begegnungsbilder, während ich roboterhaft die Einkäufe wegräume.
Nach einem großen Glas Eiswasser ist bestimmt alles gut.
Ich öffne den Kühlschrank. Auf dem Käse liegt ein Duschgel.
Ohne Zögern geh ich hinüber ins Bad. Die Salatgurke liegt neben dem Haarshampoo.
Über mir beginnt der Opernsänger zu singen .
Frühstück mit Bob Dylan
Tag 1
Ein großes Hotel in Berlin. Sehr groß. Und hoch.
Am Frühstückstisch gegenüber sitzen Bob Dylan und Helga Feddersen. Beide im Safari-Look großstadterkundungswilliger Rentner. Bob hat einen Teller mit einem großen Berg Rührei vor sich. Ein sehr großer Berg. Daneben ein Teller mit Vollkornsemmel, Käse, Tomate, Wurst und einen Orangensaft. In der Mitte des Rühreiberges thront obenauf eine halbe geschmorte Tomate. Bob trägt Gabel für Gabel den Berg vom Rand her ab. Die Akribie, mit der er das tut, ohne dass dabei die Tomate in der Mitte abrutscht oder auch nur ins Wanken gerät, deutet auf wiederholte Anwendung der Esstechnik hin. Helga hat Obst gewählt und, der Konsistenz nach zu urteilen, Quark. Ein Glas Orangensaft und ein Glas Multivitaminsaft. Sie taucht den Kaffeelöffel tief in das Zuckertöpfchen. Gleich wird sie das vermeintlich gesunde Frühstück kalorisch durch die Schallmauer jagen. Zu meiner Überraschung landet der Zucker im Saft. Ein Löffel, zwei Löffel, drei Löffel. Pro Glas! Ich vergesse zu essen und vermutlich auch, den Mund wieder zu schließen. Bob hat inzwischen das Ei um die Tomate herum nahezu vollständig verzehrt. Es ist noch ein kleiner Rest genau unter dem Nachtschattengewächs, welches immer noch kerzengerade in der Mitte des Tellers ruht. Gleich kommt der triumphierende Moment. Bob wird zum Messer greifen und das Herzstück seines Eiberg-Arrangements halbieren und den Teller ei- und tomatenrückstandsfrei beiseite schieben. Ich starre. Helga trinkt ihre Säfte nacheinander in gierigen Zügen aus. Bob nimmt die Serviette, tupft seine Lippen ab. Das Messer. Jetzt. Er hebt es an. Ich kann vor Aufregung kaum atmen. Er legt es neben die Gabel auf den Teller. Die Tomate: unangetastet. Ich starre. Nunmehr fassungslos. In Helgas Mundwinkel klebt Fruchtfleisch. Ich werde den ganzen Tag grübeln müssen.
Tag 2
Bob und Helga essen heute Obst und Quark. Beide. Große, tiefe Teller. Randvoll. Die Löffelbewegungen haben etwas vom Zuschnappen einer Schlange. Mir schräg gegenüber sitzt ein kleiner, reichlich alt aussehender Japaner (ich gehöre zu den Menschen, die sich einbilden, Japaner und Chinesen voneinander unterscheiden zu können). Das Obst auf seinem Teller isst er tatsächlich mit Messer und Gabel. So ruhig und konzentriert, als ordne er die Teile eines Mandalas neu. Es irritiert mich leicht, dass er Milchkaffee trinkt. Würde man in der Sesamstraße die Begriffe Gier und Achtsamkeit erklären wollen – ein Blick an diese beiden Frühstückstische neben mir reichte. Ich versuche mein Esstempo dem Japaner anzupassen und merke, es macht mich nervös. Achtsamkeit ist anstrengend. Je mehr ich versuche etwas von der Melone zu schmecken, desto weniger schmecke ich. Weil ich feststellen muss, dass sie tatsächlich nach gar nichts schmeckt. Ich blicke zu Bob. Inzwischen hat er nachgelegt: zwei Croissants neben einem Marmeladenberg. Bob ist bergaffin. Mein Blick trifft den des Japaners. Er sieht mir direkt ins Gesicht. Seine Mimik regt sich nicht und doch wirkt er, als ob er mir etwas mitteilen wolle. Bestimmt eine Morgenweisheit. Bestimmt etwas Zukunftsweisendes. Ich höre seine Stimme wie die von Yoda in meinem Kopf: Reich der Morgen ist! Möge die Macht mit dir sein! Filmmusik braust auf. Meine Augen zoomen zurück in die Realität. Der Japaner faltet seine Serviette. Steht auf. Er dreht sich weg um zu gehen. Hält inne. Dann dreht er sich um, und kommt direkt auf mich zu. Lächelnd. Du liebe Güte! Sein Finger berührt meine Nasenspitze und streicht darüber. Ist das so etwas wie der japanische Weisheitssegen? Perplex glotze ich. Der Japaner aber drückt seinen Finger in die Serviette auf dem Tisch, kichert und sagt „Quark!“, bevor er sich umdreht und geht.