Unter Linden

Glück gehabt. Im Eckchen unter den altehrwürdigen Bäumen vor dem Café sind noch zwei kleine Bistrotische frei. Ich nehme auf der Bank Platz, studiere die Karte, obwohl ich längst weiß: heute wird es der Crumble! In Vanillesoße. Viel Vanillesoße.

Ein Tischchen weiter bestellen zwei junge Männer. Ein französisches Frühstück und ein Müsli. Ein kleines Frühstück und Ei mit Speck. Natürlich Milchkaffee. Natürlich Wasser extra. Der Kleinfrühstücker (der tatsächlich unglaublich klein ist. Nennen wir ihn also der Einfachheit halber Kleiner) guckt auf seine große, offenbar neue Armbanduhr. Der Französischfrühstücker (kurz: Franz) sitzt mir zugewandt auf der Bank. Blond ist er. Blass und blond. Mit einer dunkelblauen Joppe, an deren Revers ein kleines Abzeichen befestigt ist. Die Sorte Jacke, die ich Joppe nenne, wird normalerweise von Mittfünfzigern getragen, deren letztes, unsichtbares modisches Aufbegehren ein Wechsel von Feinripp zu Microfaser war. Frisur und Joppe von Franz wirken ausbalanciert. Den Haarschnitt hat er vermutlich, seit er sechs ist. Die Haut ist zu trocken, leicht schuppig, das Gesicht wirkt so kariert, wie sein Hemd. Die Chinos royal , was die Knöchel noch weißer aus den Turnschuhen ragen lässt. Keine Socken. Auch nicht die Sneakervariante. Franz ist groß. Auf der Bank, die eine gute Sitzhöhe macht, ragt er wie ein blassblauer Kranich über die Tischkante. Ich hätte nicht viel Zeit auf seine Betrachtung verschwendet, wäre da nicht sein Nasenpiercing gewesen. Ein blassblauer Kranich mit Nasenpiercing. In Joppe. Ich starre.

Franz ist nicht verwegen. Kein Rebell. Seine Fingernägel sind nicht abgekaut; nur kantig geschnitten. Er wirkt nicht intellektuell und ist es, der Sonnenbrille nach, die auf dem Tisch liegt, auch nicht. Der Wahl der Begleitung nach im Übrigen auch nicht.
Der Kleine sitzt im ihn noch kleiner machenden Gartenstuhl und hat Mühe, die Ellenbogen auf dem Tisch zu platzieren. Das Bein kolibrigleich wippend. Die Haare im Unifriseurfaconschnitt. Gegeelt. Akkurat. Die Haut gebräunt. Auf seiner Stirn regt sich nichts, wenn er spricht. Manchmal möchte die linke Braue ausbrechen, aber ehe sie Fahrt aufnehmen kann, leert sich sein Blick und zwingt die Mimik zurück in die Bedeutungslosigkeit. Mein Fokus wechselt zwischen Franz‘ Piercing und der Armbanduhr des Kleinen. Nichts passt.
Das Frühstück kommt. Franz ist konsterniert. Wer konnte auch ahnen, dass sich hinter einem französischen Frühstück ein Croissant mit Butter und Marmelade verbirgt. Und nichts sonst. Das kleine Frühstück des Kleinen prahlt mit Brötchen und Brot und reichlich Belagauswahl. Für wenige Cent mehr. Franz schnauft. Er wirkt noch blasser. Das Piercing kranichmatt. Einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass die Joppe etwas sagen möchte. Sie schweigt.
Ein Punker kommt vorbei, haarig und animalisch, wie ein Ork. Es ist ein Ork.
Der Kleine rückt sein Frühstück in Szene. Die Hände tänzeln. Das Rührei, derb und reichlich, lässt ihn aus dem zu tiefen Sesselchen wachsen. Franz sieht dem Ork nach. Mein Crumble wird serviert und verströmt warmen Zimtduft. Da geschieht es: der Kleine hebt flink seinen Arm und leckt einmal mit der Zunge über seine Uhr. Greift die Serviette und poliert das bespeichelte Glas. Franz dreht sich zurück zum Tisch und seufzt auf das Croissant. „Ja, dann…!“, sagt er.
Ich tauche den Löffel tief in die Vanillesoße und lächle. Unter den Linden.

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