Randmoment

Bevor ich Aachen wieder verlasse, folge ich meinem Impuls und gehe rasch die 600 Meter bis zum Dom. Mit frostroten Fingern betrete ich den Vorraum. Ein Hauch Weihrauch liegt in der Luft. So vertraut. Ich atme tief ein, als ich die Hauptkirche betrete. Das harzig-herbe Aroma legt sich wie eine leicht raue, schützend warme Decke auf jeden filigranen Atemzug.
Wenige Besucher. Nahezu vollendete Stille.
Ich stehe im Halbdunkel und betrachte die goldenen Ornamente über mir. Abendliche Sonnenstrahlen bahnen sich unvermutet ihren Weg durch das Fenster; die Decke beginnt zu glitzern und zu funkeln. Ich schließe kurz die Augen.

„Wenn Sie sich jetzt auf die Zehenspitzen stellen, können Sie direkt über den Rand Ihrer Seele hinaus sehen.“

Überrascht drehe ich mich zur Stimme neben mir. Der Domschweizer ist verwittert und erinnert mich an Kapitän Haddock. Ich weiß nichts zu sagen und lächle. Er drückt großväterlich beide Augen zu zum Gruß und geht weiter. Das Licht am Fenster ebbt ab.

Der Rand meiner Seele. Ich glaubte immer, sie hat gar keinen.

IMG_5626 (002)

Wiegeschrittmoment

Der kleine, ältere Mann mit Stetsonkappe trägt eine Lederjacke, deren grobkantiger Reißverschluss unter der Spannung der kugeligen Bauchrundung wenig vertrauenserweckend wirkt. Zwischen fleischigen, dicht von dunklen Wimpern umrahmten Lidern, blitzt wässrig etwas Augenschwarz hervor. Sein Brustkorb ist atembewegungsfrei. Die Hände umklammern die Griffe eines Rollstuhls. In ihm eine kleine, knöcherne Frau. Der moderne, graue Flanellmantel mit einfachem Bindegürtel ist ein Kontrast zur beigen Wollimitathose, die über und über mit kleinen Flusenknötchen bedeckt ist. Trotz der gekauerten Körperhaltung wirkt die Frau elegant. Ihre Füße sind auf die Stützen gestellt, die Knie x-dicht zusammen. (Und doch sehe ich zwei lässig übereinander geschlagene Beine, als ich zu ihr herüber blicke.) Sie trägt Tanzschuhe mit Lackriemchen. Die Arme ruhen angewinkelt auf den Lehnen, wobei die Ellenbogen leicht überstehen. Die einzig angewetzten Stellen des Mantels. Ihr Haar ist topfschnittlang und von natürlichem Erdgrau. Am Übergang zum Hinterkopf steht ein Haarsträhnensträußchen empor, das sanft mit jeder Rollbewegung wippt. Der Mann schiebt die Frau ins Eiscafé hinein. Der Rollstuhl hat Rechtsdrall.
RUMMS.
Unsanft wird das Gefährt von der Wand abgebremst. Ich fasse mir reflexartig an den Ellenbogen. Die Frau nicht. Der Mann dreht sich zur Seite und blickt auf die leeren Sitzbänke. Ohne die Frau anzusehen, greift er wieder nach den Rollstuhlgriffen, zieht sie leicht zu sich, hebelt Sitz und Räder leicht nach links. Keinen halben Meter geht es gut.
RUMMS.
Wieder die Wand. Erstaunt lasse ich meinen Löffel ins Eis sinken. Die Frau greift sich reflexartig an den Ellenbogen. Der Mann dreht sich weg zu den leeren Sitzbänken. Er wiegt sich kaum wahrnehmbar in den Hüften. Hände an die Griffe. Leicht nach links. Voller Schub voraus.
RUMMS.
Ich springe auf.
Greife reflexartig nach ihrem Ellenbogen. Der Mann dreht sich weg zu den Sitzbänken.
Sie blickt mich an. Mustert mich von oben bis unten. Meine Wanderschuhe sind schlammig, das bemerke ich erst jetzt.
„Dort!“
Sie zeigt auf einen Tisch am Ende des schlauchigen Eiscafés.
Der Mann greift bestimmend eindeutig nach den Rollstuhlgriffen.
„Ach, doch lieber hier.“ sagt sie.
Er schwenkt zum nächsten Tisch.
Stellt die Rollstuhlräder nicht fest. An ihrer Art, unfallfrei auf die Sitzbank zu wechseln, erkenne ich, dass das immer so ist. Sie zieht den Mantel glatt. Der Mann nimmt die Stetsonkappe ab. Zum ersten Mal schaut er der Frau ins Gesicht. Ich gehe zurück zum Löffel im Eis.
Minuten später bringt eine blass-rosige Studentin eine große Eisschokolade mit zwei Strohhalmen. Der Mann und die Frau setzen gleichzeitig an. Ihre Wangen müssten sich beim Trinken nicht berühren, tun es aber. Alle Augen geschlossen. Zug um Zug um Zug, bis der hohe Becher leer ist. Das Schnorcheln der Halme am Glasboden genießen beide sichtlich. Hand neben Hand, unterm Tisch.

Ingeborg

Von Schildkröten hatte ich wirklich nicht die geringste Ahnung.
„Hat Marc nichts gesagt?“ Ich blickte den Dichter ratlos an.
„Nein, Marc hat nichts gesagt, also natürlich hat er was gesagt, aber nichts Spezielles. Nicht so viel Banane, die macht den Kiefer weich. Pflegeleicht ist sie. Frisches Wasser und Löwenzahn oder Salat. Mehr müssen wir gar nicht machen. “
„Wenig Banane, o.k.“

Ingeborg. Eine Landschildkröte. Unflauschig. Ungesellig. Kein Streicheltier. Abgegeben für vier lange Wochen bei uns. In einem „Reiseterrarium“, wie Marc es genannt hatte. Ein kleiner Glaskasten mit Deckel, am Boden Sand; eine Art Wassernapf, der wohl zeitgleich einen Tümpel imitieren sollte. Holz. Welke Salatblätter. Wenn sie wenigstens ein Hase gewesen wäre. Oder ein Hamster. Jedenfalls irgendwas, was den Blick erwidert!
Pock.
Ingeborg stieß mit dem Kopf gegen das Glas.
„Das ist normal, hat Marc gesagt. Das legt sich, sobald sie angekommen ist.“
Aha.

Wir stellten das Terrarium ins Schlafzimmer, fernab von Tagesgewusel und Musikbeschallung. Ingeborg sollte ankommen können.
Pock.
Von morgens bis abends lief sie entlang der gläsernen Wand, bis sie am Ende anstieß. Drehte dann um und lief zurück.
Pock.
Pock.
Pock.

Ich blickte auf die Uhr: Viertel vor zwei.
Pock.
„Schläfst du?“
Der Dichter ließ nur ein tiefes, gleichmäßiges Atmen vernehmen.
Pock.
Ich drehte mich auf die andere Seite.
Pock.
Ingeborg schob ihren handtellergroßen Körper unaufhörlich durch den Terrariumssand.
Pock.
Ich zählte meine Atemzüge. Ein-Aus-Ein-Aus-Ein-Aus-Ein-Aus-Pock.

Wenn ich schlafe, schlafe ich wie eine Tote. Man könnte mich wegtragen nachts. Oder ein Feuerwerk neben meinem Kopfkissen abfackeln. Aber jenes Pock, wenn Ingeborgs Kopf gegen die Glasscheibe stieß, drang mir bis ins Mark.
Pock.
Ich lauschte über Stunden. Der Schlaf folgte letztlich der Erschöpfung.

„Ich stell das Terrarium ins Wohnzimmer. Ich halte das nachts nicht aus.“
„Das kannst du nicht machen! Das wäre ja wieder ein Standortwechsel!“ Der Dichter protestierte lautstark.
„Sie raubt mir den Schlaf!“
„Sie muss im Schlafzimmer bleiben! Heute ist doch schon Tag vier. Wenn wir sie wieder umstellen, kommt sie nie an!“
Ingeborg kam auch an diesem vierten Tag nicht an. Als ich abends heimkehrte, hörte ich schon im Flur das unselige, vertraute Geräusch.
Pock.
Zwölf Stunden lang hatte sich Ingeborg tief durch den Sand gewühlt. War durch ihren Trinknapf gewandert und hatte mehrere Schichten pappigen, nassen Sandes auf ihrem Panzer. Sie sah aus wie ein prähistorisches Schnitzel. Der am Morgen ins Terrarium gelegte Blattsalat war unangetastet.
Pock.
Ich klappte den Deckel des Terrariums auf. Ein intensiv muffiger Geruch stieg empor. Mit spitzen Fingern hob ich sie an ihrem Panzer empor. Ein lautes Fauchen begleitete den kurzen Gang zur Küche. Plötzlich spritzte Ingeborg eine Flüssigkeit quer durch den Flur. Ich erschrak. Zwei schnelle Schritte, dann setzte ich sie im Spülbecken ab.
Pock.
Ingeborg stieß gegen den Beckenrand.
Der Schlüssel klackte im Schloss. Der Dichter kam heim. Mir kullerten Tränen übers Gesicht. „Was soll ich denn machen? Was soll ich nur mit dem Tier machen?“
Pock.
Der Dichter, regulär Schöngeist und selten zu pragmatischen Handlungen veranlasst, schob mich aus der Küche, wusch Ingeborg ab und setzte sie zurück ins Terrarium.
Pock.
„Ruf morgen mal irgendwo an, wo man sich mit Schildkröten auskennt. Vielleicht gibt es ja Tipps?“
„Wo ruft man denn da an?“
„In der Zoohandlung vielleicht?“

In diesem Leben vor Internet, Google und Smartphone, telefonierte ich also (zwischen meinen Kundenterminen) Gott und die Welt nach Schildkröteninformationen ab.
Zoohandlungen: „Die Schildkröte ist nicht von uns? Es tut mir leid, dann kann ich Ihnen keine Auskunft geben.“
Ein zoologisches Museum: „Es tut mir leid. Wir haben nur ausgestopfte Tiere.“
Die Uni: „Der Herr Professor ist bis nächste Woche auf Vortragsreise. Aber eine der studentischen Hilfskräfte kann Sie zurückrufen. Allerdings frühestens morgen.“
Ein Landschildkrötenverein: „Am Telefon geben wir keine Auskunft. Aber kommen Sie doch am nächsten Montag zu unserem Vereinsstammtisch!“
Entnervt ließ ich den Hörer sinken. Hob ihn direkt wieder an und sagte alle restlichen Kundentermine des Tages ab. „Ein Notfall. Ein familiärer Notfall. Eine schlimme Kopfverletzung…wissen Sie.“
Man hatte Verständnis.

Ich betrat die Buchhandlung wenig hoffnungsvoll. Wahrscheinlich gab es nur Hunde-, Welpen-, Katzen- und Wellensittichratgeber. Mit Sicherheit ein ganzes Regal über Golden Retriever. Ich sollte irren. Schildkrötenratgeber waren in annehmbarer Menge vertreten.
Für Anfänger.
Ich war einer. Ingeborg nicht. Egal. Ich klappte das Buch auf, an irgendeiner Stelle. Schon nach wenigen quergelesenen Seiten offenbarte sich Ingeborgs ganzes Drama.

Das „Reiseterrarium“ war in Wirklichkeit ein Aquarium. Nicht für Landschildkröten geeignet. Und Landschildkröten waren keine Terrariumstiere, sondern Tiere für Freigehege. Keinesfalls „pflegeleicht“. Meine Augen rasten über die Buchseiten.
Noch mehr als drei Wochen. In einer kleinen studentischen 2-Zimmer-Wohnung. Etwas musste geschehen.

„Was hast du getan?“
Der Dichter blickte ratlos ins Wohnzimmer.
Vor einem Möbelmarkt hatte ich einen 150 x 200 Meter großen Pappdeckel mit leichten Seitenkanten ergattert und ihn flach auf den Boden gelegt. Esstisch und Stühle mussten weichen.
Ingeborgs künftiges Papprefugium war gefüllt mit Rindenhumus, Erde und Steinchen. Große Steine und Töpfchen mit Salbei bzw. Thymian standen daneben. Zwei Versteckhöhlen aus Holz. Ein großer, flacher Wassernapf. Ein Haufen frischer Löwenzahn. Und über allem thronte die aus meinen Kosmetiksalon entwendete Infrarotlampe.
„Schön, dass du da bist! Dann kann es jetzt losgehen.“
Ich öffnete die Schlafzimmertür.
Pock.
Ingeborg fauchte um ihr Leben, als ich sie ins Wohnzimmer trug. Im neuen Wohnzimmerfreigehege abgesetzt, lief sie zunächst verschreckt los. Rammte die Pappwand.
Buff.
Bis zum anderen Ende der Landschaft dauerte es etwas.
Buff.
„Sag nichts! Wart’s ab!“
Buff.
Nach zwei Stunden entdeckte das Tier den infrarotgewärmten Stein, krabbelte hinauf und ruhte.
Ingeborg und ich blickten einander lange in die Augen.
Die Stille war weich.

Was bleibt.

Nach einem schweren Schlaganfall war meine Oma halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Die Ärzte hatten nach dem CT gesagt, sie könne nicht überleben. Auch nicht mehr aus dem Koma erwachen. Sie überlebte. Sie erwachte. Als Vollpflegefall. Es stand außer Frage für meine Mutter, dass sie bei uns betreut würde. Also wurde das gesamte Familien- und Arbeitsleben umorganisiert und Oma zog ein. Mit Krankenbett, Bettstuhl, Krankenhausnachtschrank und einem sehr schiefen, sehr glücklichen Lächeln. Wann immer es ging, verlegten wir Hausarbeiten wie Bügeln oder Wäsche sortieren/zusammenlegen (oder ich meine Schulhausaufgaben) in das Zimmer meiner Oma, damit sie Gesellschaft hatte. Ich erinnere mich oft an jenen Nachmittag, wo meine Mutter bügelte und ich daneben einen Berg von Praxis-Handtüchern zusammenlegte (aus Mutterns Kosmetikinstitut). Trotz der Unfähigkeit, sich artikulieren zu können, konnten wir uns mit meiner Oma verständigen. Es war ein heiterer Nachmittag. Viel mädchenhaftes Kichern. Viele erzählte Geschichten. Plötzlich bedeutete meine Oma mir, sie wolle auch etwas tun. Mit dem beweglichen Arm fuchtelte sie durch die Luft.

„Oma, du kannst keine Handtücher zusammenlegen! Das ist viel zu schwer!“
Energisch schüttelte sie den Kopf. Also ging ich ans Bett, setze meine Oma an die Bettkante und klemmte sie so gut es ging mit Lagerungskissen und hochgeklapptem Kopfteil fest, damit sie etwas Halt hatte und nicht umfiel. Ich zog die Platte des Nachtschranks heraus, schob sie vor meine Oma, legte ihr ein Handtuch darauf. Meine Oma nahm mit ihrem gesunden Arm die gelähmte Hand, legte sie zum Fixieren auf die Handtuchkante. Dann strich sie sehr sorgfältig und mit einer unvermuteten Energie die Knitterfalten aus dem Frottee. Sie faltete das Handtuch Stück für Stück in die von Muttern gewünschte Form. ( „Handtücher müssen exakt so gefaltet und gestapelt werden, Kind!“ Ihr Erscheinungsbild im offenen Regal unterlag immer einer strengen, mütterlichem Blickkontrolle.)

Es dauerte Minuten, bis meine Oma ein Handtuch fertig hatte. Ich legte ihr weitere Handtücher griffbereit hin. Sie strahlte. Die gedankliche Last, anderen eine Last zu sein ohne etwas zurückgeben zu können, fiel für eine kostbare Zeitspanne von ihr ab.

Einige Wochen später beendete ein zweiter, schwerer Schlag Omas Leben. Ich war 16.

Noch heute (29 Jahre später) falte und staple ich die Handtücher so, wie im Kosmetikinstitut meiner Mutter und später in meinem. Und bei jedem Glattstreichen des Frottees sehe ich meine schiefe Oma, mit ihrem schiefen Lächeln und den glücklichen Augen. Weder sie noch meine Mutter waren zu Lebzeiten jemals in Hamburg. Wenn sie wüssten, dass sie nun hier bei mir in der Anwendungstechnik im Regal wohnen, sie kicherten gewiss. Immer noch mädchenhaft.

Stiller Tag

24.12.    Im Frühstückssaal herrscht überschaubare Betriebsamkeit. Familien mit halberwachsenem Nachwuchs. Einige ältere Paare. Keine Schlacht am Buffet. Selbst beim Eierkoch dominiert heiteres Warten durch die Gewissheit, es ist genug für alle da. Die Melodie des letzten Cocktails vom Vorabend schwingt noch leicht aus unter meiner Schädeldecke. Ich transportiere gebratene Tomaten, Röstkartoffeln und ein Stück Räucherforelle an meinen Platz. Dass dazu Kaffee schmeckt, liegt an der Tageszeit und dem Wort Frühstück. Die Frau am Automat nebenan war konsterniert, als ich in meinen Cafe Crema noch einen Espresso fließen ließ. Dabei hatte ich mich einfach verdrückt. Gewollt war extra Milchschaum. Beim Zerteilen der Tomaten schweift mein Blick durch den Raum. Das Ehepaar zwei Tische weiter sitzt nebeneinander. Beide lesen Zeitung. Er bohrt verstohlen in der Nase, hält sich an der Gattinnen-Seite schützend das Feuilleton vors Gesicht. Als er bemerkt, dass ich von der anderen Seite alles sehen kann,  zieht er den Finger aus der Nase, räuspert sich und rutscht auf der Sitzbank hin und her. Am runden Tisch schräg gegenüber fotografiert eine dickliche Blondine erst die Weihnachtsdekoration auf dem Tisch und dann alle (gefüllten) Teller ihrer Begleiter. Nach jedem Foto geht sie einmal um den Tisch und zeigt das abgelichtete Motiv auf dem Display. Nicken. Knurren. Gurren. Alles in allem weht ein leicht russischer Akzent herüber. Eine Lücke zwischen dem augenscheinlichen Tischpatriarch und seinem Sitznachbarn, gibt den Blick auf einen einzelnen Herrn im Hintergrund frei.

Er beißt gerade von seinem Brötchen ab, als ich ihn entdecke. Während er kaut, zieht er die Arme vor seine Brust. Die Hände greifen ineinander. Seine Augen fokussieren das abgelegte Brötchen. Die Kaubewegungen sind intensiv und langsam. An den Schläfen kann ich pulsierende Adern sehen. Bevor er einen Schluck Tee aus dem Glas nimmt, tupft er sich die Lippen mit der Stoffserviette ab. Die Mundwinkel werden dabei gesondert mit einer leichten Wischbewegung bedacht. Die dickliche Blondine fotografiert inzwischen das Birchermüesli auf dem Buffet. Die Glatze des Mannes ist selbstgewählt. Der Pullover zeigt unentschlossenes Grau in leicht filziger Wollqualität. Die kurze Knopfleiste vorne ist bis obenhin geschlossen. Bemerkenswert ist ein Damenring, den er am kleinen Finger links trägt. Ein zierlicher Ring, golden, mit einem rot funkelnden Stein. Die dickliche Blondine fotografiert die Weihnachtsmütze des Eierkochs.

Wenn er die Hände faltet, verschwindet der Ring halb unter den Fingern der anderen Hand. Sechzig wird der Mann sein. Vielleicht auch ein paar Jahre älter. Alte Liebe? Erbstück? Ein Spleen?

Ich stehe auf und gehe Richtung Kaffeestation. Wähle bewusst den Weg an seinem Tisch vorbei. Noch bevor ich da bin, steht er ebenfalls auf. An den Automaten treffen wir aufeinander. Als er nach einem Teeglas auf der Ablage greift, rutscht sein Pulloverärmel leicht nach oben. Eine Tätowierung knapp über dem Handgelenk wird sichtbar. Sie ist seemannsschäbig. Wie selbstgeritzt. Umso überraschender das Wort: Madeleine.

Mein Cafe Crema läuft über den Rand der Espressotasse. Dunkle Flüssigkeit rinnt in Kunststoffritzen. Ich möchte den Vorgang stoppen, drücke reflexfartig erneut auf den Knopf. Eine zweite Portion überflutet das zu klein gewählte Behältnis. Jetzt rinnt es über den Automatenrand hinaus. Meine linke Hand stoppt meine rechte beim Versuch, wieder zu drücken. Der Mann sieht auf mein Kaffeedrama. Er nimmt eine Papierserviette und trocknet den Fluss. Stellt eine Tasse unter den anderen Automaten. Sie füllt sich mit Cafe Crema.
„Danke. Vielen Dank. Wie peinlich.“ Ich habe ebenfalls eine Papierserviette gegriffen und wische umher.

Er reicht mir die Tasse. Sieht zur dicklichen Blondine. Zur Eierkochmütze. Zum Nasenbohrermann. Seine Stimme ist brombeerrau. Beim Sprechen verliert sich das leichte Lächeln.
„Ach was. Niemand ist tot.“

Aber Madeleine! Lang schon.
Der Ring funkelt.