Melodiemoment

„Sie sehen ja, was hier los ist.“
Die Empfangsfee der Praxis macht erst eine Kopfbewegung Richtung Wartezimmer, dann eine Richtung Eingangstür. Eine Menschenschlange mäandert durch das Entree und teilt sich erst kurz vor dem Tresen.
„Nehmen Sie dort vorne Platz. Frau Doktor kommt gleich.“
Sagt sie. Und zwinkert. Zurückzuzwinkern erscheint mir unangebracht.

Es ist eine großzügige, helle Praxis. Von den drei Ärztinnen hält nur eine die Stellung während der Osterferien – und eine gefühlte Armada von Personal. Aus den unzähligen Türen um mich herum kommt allenthalben eine andere Praxisfee inklusive Patientin oder Patient. Rezepte werden gedruckt, Verhaltensregeln aufgesagt, Pflaster nachfixiert, Überweisungsscheine ausgehändigt.

Mein Handy klingelt.
„Ja…ja, das können Sie auch auftragen. Nein, nur abends. Ja. Sonst melden Sie sich noch mal.“

Ich sitze vor Raum 7. Sieben ist meine Lieblingszahl seit der Grundschule. Aus Raum 6 kann ich ein Surren hören. Klingt ein wenig nach Brotschneidemaschine. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was dort gemacht wird. Schräg gegenüber, vor Raum 8, sitzt eine alte Dame. Das Surren in 6 hört auf. Nun summt es. Sehr melodisch. Ich kenn das Lied! Es summt auch nicht aus der 6, sondern vor der 8. Die alte Dame summt leise vor sich hin. In der 6 setzt die Brotschneidemaschine wieder ein. Ich schließe die Augen und versuche das Lied herauszufiltern. Etwas zu verstehen. Unmöglich. Ich werde ganz kribbelig. So eine vertraute Melodie! Ich komm einfach nicht drauf! Das 6er-Surren ebbt ab. Die Dame summt noch immer. Aus der 9 stürmt ein Kind, wenige Schritte dahinter die Erziehungsberechtigte. Das Kind bleibt hüpfend auf meiner Höhe stehen und zerhüpft den Gesang der alten Dame. Ich möchte „Pscht!“ sagen oder „Nu wadde mal kurz…!“, aber ich lasse hüpfen. Dann ist das Kind wieder weg.
„Frau Strang?“
Frau Doktor guckt aus der 6.
„Gehen Sie doch schon mal in die 7.“
„Ja, danke.“
Ich möchte mit dem Fuß aufstampfen und „Ruhe mal eben!“ schreien.
Da steht die alte Dame auf. Die 8 hat sich geöffnet. Gleich ist sie weg. In der 6 springt die Brotschneidemaschine wieder an.
Ich gebe auf und geh in die 7.

Zwanzig Minuten später stehe ich in der Patiententoilette und wasche meine Hände. Hinter mir öffnet sich die Tür und die alte Dame kommt herein. Ruckartig drehe ich den Wasserhahn zu und stehe starr wie ein Zinnsoldat. Die Dame geht tonlos an mir vorbei. Das abperlende Wasser an meinen über dem Waschbecken schwebenden Hände kitzelt.
Gott! Wenn es dich gibt, lass sie summen, bevor sie die Tür schließt! Summensummensummen!
Mein Handy klingelt in die Stille. Ich ziehe es revolverschnell aus der Tasche und drücke den Ton weg.
Die alte Dame ist stehen geblieben. Jetzt dreht sie sich um, sieht mich an und sagt: „Ach schade! Hab ich vorhin immer nachsummen müssen. Kommt mir so bekannt vor, aber ich komme nicht drauf, wie das Stück heißt! Verraten Sie es mir?“
Ich habe Augen wie ein Lemur.
„Ist nur ein Klingelton. Aber erinnert an Mozart.“
„Richtig! An Mozart.“ Sie tippt sich mit einem Finger an die Schläfe.
Dann geht sie in die Kabine und schließt die Tür.
Ob es Gott gibt, weiß ich nun immer noch nicht.

Randmoment

Bevor ich Aachen wieder verlasse, folge ich meinem Impuls und gehe rasch die 600 Meter bis zum Dom. Mit frostroten Fingern betrete ich den Vorraum. Ein Hauch Weihrauch liegt in der Luft. So vertraut. Ich atme tief ein, als ich die Hauptkirche betrete. Das harzig-herbe Aroma legt sich wie eine leicht raue, schützend warme Decke auf jeden filigranen Atemzug.
Wenige Besucher. Nahezu vollendete Stille.
Ich stehe im Halbdunkel und betrachte die goldenen Ornamente über mir. Abendliche Sonnenstrahlen bahnen sich unvermutet ihren Weg durch das Fenster; die Decke beginnt zu glitzern und zu funkeln. Ich schließe kurz die Augen.

„Wenn Sie sich jetzt auf die Zehenspitzen stellen, können Sie direkt über den Rand Ihrer Seele hinaus sehen.“

Überrascht drehe ich mich zur Stimme neben mir. Der Domschweizer ist verwittert und erinnert mich an Kapitän Haddock. Ich weiß nichts zu sagen und lächle. Er drückt großväterlich beide Augen zu zum Gruß und geht weiter. Das Licht am Fenster ebbt ab.

Der Rand meiner Seele. Ich glaubte immer, sie hat gar keinen.

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Wiegeschrittmoment

Der kleine, ältere Mann mit Stetsonkappe trägt eine Lederjacke, deren grobkantiger Reißverschluss unter der Spannung der kugeligen Bauchrundung wenig vertrauenserweckend wirkt. Zwischen fleischigen, dicht von dunklen Wimpern umrahmten Lidern, blitzt wässrig etwas Augenschwarz hervor. Sein Brustkorb ist atembewegungsfrei. Die Hände umklammern die Griffe eines Rollstuhls. In ihm eine kleine, knöcherne Frau. Der moderne, graue Flanellmantel mit einfachem Bindegürtel ist ein Kontrast zur beigen Wollimitathose, die über und über mit kleinen Flusenknötchen bedeckt ist. Trotz der gekauerten Körperhaltung wirkt die Frau elegant. Ihre Füße sind auf die Stützen gestellt, die Knie x-dicht zusammen. (Und doch sehe ich zwei lässig übereinander geschlagene Beine, als ich zu ihr herüber blicke.) Sie trägt Tanzschuhe mit Lackriemchen. Die Arme ruhen angewinkelt auf den Lehnen, wobei die Ellenbogen leicht überstehen. Die einzig angewetzten Stellen des Mantels. Ihr Haar ist topfschnittlang und von natürlichem Erdgrau. Am Übergang zum Hinterkopf steht ein Haarsträhnensträußchen empor, das sanft mit jeder Rollbewegung wippt. Der Mann schiebt die Frau ins Eiscafé hinein. Der Rollstuhl hat Rechtsdrall.
RUMMS.
Unsanft wird das Gefährt von der Wand abgebremst. Ich fasse mir reflexartig an den Ellenbogen. Die Frau nicht. Der Mann dreht sich zur Seite und blickt auf die leeren Sitzbänke. Ohne die Frau anzusehen, greift er wieder nach den Rollstuhlgriffen, zieht sie leicht zu sich, hebelt Sitz und Räder leicht nach links. Keinen halben Meter geht es gut.
RUMMS.
Wieder die Wand. Erstaunt lasse ich meinen Löffel ins Eis sinken. Die Frau greift sich reflexartig an den Ellenbogen. Der Mann dreht sich weg zu den leeren Sitzbänken. Er wiegt sich kaum wahrnehmbar in den Hüften. Hände an die Griffe. Leicht nach links. Voller Schub voraus.
RUMMS.
Ich springe auf.
Greife reflexartig nach ihrem Ellenbogen. Der Mann dreht sich weg zu den Sitzbänken.
Sie blickt mich an. Mustert mich von oben bis unten. Meine Wanderschuhe sind schlammig, das bemerke ich erst jetzt.
„Dort!“
Sie zeigt auf einen Tisch am Ende des schlauchigen Eiscafés.
Der Mann greift bestimmend eindeutig nach den Rollstuhlgriffen.
„Ach, doch lieber hier.“ sagt sie.
Er schwenkt zum nächsten Tisch.
Stellt die Rollstuhlräder nicht fest. An ihrer Art, unfallfrei auf die Sitzbank zu wechseln, erkenne ich, dass das immer so ist. Sie zieht den Mantel glatt. Der Mann nimmt die Stetsonkappe ab. Zum ersten Mal schaut er der Frau ins Gesicht. Ich gehe zurück zum Löffel im Eis.
Minuten später bringt eine blass-rosige Studentin eine große Eisschokolade mit zwei Strohhalmen. Der Mann und die Frau setzen gleichzeitig an. Ihre Wangen müssten sich beim Trinken nicht berühren, tun es aber. Alle Augen geschlossen. Zug um Zug um Zug, bis der hohe Becher leer ist. Das Schnorcheln der Halme am Glasboden genießen beide sichtlich. Hand neben Hand, unterm Tisch.

Ingeborg

Von Schildkröten hatte ich wirklich nicht die geringste Ahnung.
„Hat Marc nichts gesagt?“ Ich blickte den Dichter ratlos an.
„Nein, Marc hat nichts gesagt, also natürlich hat er was gesagt, aber nichts Spezielles. Nicht so viel Banane, die macht den Kiefer weich. Pflegeleicht ist sie. Frisches Wasser und Löwenzahn oder Salat. Mehr müssen wir gar nicht machen. “
„Wenig Banane, o.k.“

Ingeborg. Eine Landschildkröte. Unflauschig. Ungesellig. Kein Streicheltier. Abgegeben für vier lange Wochen bei uns. In einem „Reiseterrarium“, wie Marc es genannt hatte. Ein kleiner Glaskasten mit Deckel, am Boden Sand; eine Art Wassernapf, der wohl zeitgleich einen Tümpel imitieren sollte. Holz. Welke Salatblätter. Wenn sie wenigstens ein Hase gewesen wäre. Oder ein Hamster. Jedenfalls irgendwas, was den Blick erwidert!
Pock.
Ingeborg stieß mit dem Kopf gegen das Glas.
„Das ist normal, hat Marc gesagt. Das legt sich, sobald sie angekommen ist.“
Aha.

Wir stellten das Terrarium ins Schlafzimmer, fernab von Tagesgewusel und Musikbeschallung. Ingeborg sollte ankommen können.
Pock.
Von morgens bis abends lief sie entlang der gläsernen Wand, bis sie am Ende anstieß. Drehte dann um und lief zurück.
Pock.
Pock.
Pock.

Ich blickte auf die Uhr: Viertel vor zwei.
Pock.
„Schläfst du?“
Der Dichter ließ nur ein tiefes, gleichmäßiges Atmen vernehmen.
Pock.
Ich drehte mich auf die andere Seite.
Pock.
Ingeborg schob ihren handtellergroßen Körper unaufhörlich durch den Terrariumssand.
Pock.
Ich zählte meine Atemzüge. Ein-Aus-Ein-Aus-Ein-Aus-Ein-Aus-Pock.

Wenn ich schlafe, schlafe ich wie eine Tote. Man könnte mich wegtragen nachts. Oder ein Feuerwerk neben meinem Kopfkissen abfackeln. Aber jenes Pock, wenn Ingeborgs Kopf gegen die Glasscheibe stieß, drang mir bis ins Mark.
Pock.
Ich lauschte über Stunden. Der Schlaf folgte letztlich der Erschöpfung.

„Ich stell das Terrarium ins Wohnzimmer. Ich halte das nachts nicht aus.“
„Das kannst du nicht machen! Das wäre ja wieder ein Standortwechsel!“ Der Dichter protestierte lautstark.
„Sie raubt mir den Schlaf!“
„Sie muss im Schlafzimmer bleiben! Heute ist doch schon Tag vier. Wenn wir sie wieder umstellen, kommt sie nie an!“
Ingeborg kam auch an diesem vierten Tag nicht an. Als ich abends heimkehrte, hörte ich schon im Flur das unselige, vertraute Geräusch.
Pock.
Zwölf Stunden lang hatte sich Ingeborg tief durch den Sand gewühlt. War durch ihren Trinknapf gewandert und hatte mehrere Schichten pappigen, nassen Sandes auf ihrem Panzer. Sie sah aus wie ein prähistorisches Schnitzel. Der am Morgen ins Terrarium gelegte Blattsalat war unangetastet.
Pock.
Ich klappte den Deckel des Terrariums auf. Ein intensiv muffiger Geruch stieg empor. Mit spitzen Fingern hob ich sie an ihrem Panzer empor. Ein lautes Fauchen begleitete den kurzen Gang zur Küche. Plötzlich spritzte Ingeborg eine Flüssigkeit quer durch den Flur. Ich erschrak. Zwei schnelle Schritte, dann setzte ich sie im Spülbecken ab.
Pock.
Ingeborg stieß gegen den Beckenrand.
Der Schlüssel klackte im Schloss. Der Dichter kam heim. Mir kullerten Tränen übers Gesicht. „Was soll ich denn machen? Was soll ich nur mit dem Tier machen?“
Pock.
Der Dichter, regulär Schöngeist und selten zu pragmatischen Handlungen veranlasst, schob mich aus der Küche, wusch Ingeborg ab und setzte sie zurück ins Terrarium.
Pock.
„Ruf morgen mal irgendwo an, wo man sich mit Schildkröten auskennt. Vielleicht gibt es ja Tipps?“
„Wo ruft man denn da an?“
„In der Zoohandlung vielleicht?“

In diesem Leben vor Internet, Google und Smartphone, telefonierte ich also (zwischen meinen Kundenterminen) Gott und die Welt nach Schildkröteninformationen ab.
Zoohandlungen: „Die Schildkröte ist nicht von uns? Es tut mir leid, dann kann ich Ihnen keine Auskunft geben.“
Ein zoologisches Museum: „Es tut mir leid. Wir haben nur ausgestopfte Tiere.“
Die Uni: „Der Herr Professor ist bis nächste Woche auf Vortragsreise. Aber eine der studentischen Hilfskräfte kann Sie zurückrufen. Allerdings frühestens morgen.“
Ein Landschildkrötenverein: „Am Telefon geben wir keine Auskunft. Aber kommen Sie doch am nächsten Montag zu unserem Vereinsstammtisch!“
Entnervt ließ ich den Hörer sinken. Hob ihn direkt wieder an und sagte alle restlichen Kundentermine des Tages ab. „Ein Notfall. Ein familiärer Notfall. Eine schlimme Kopfverletzung…wissen Sie.“
Man hatte Verständnis.

Ich betrat die Buchhandlung wenig hoffnungsvoll. Wahrscheinlich gab es nur Hunde-, Welpen-, Katzen- und Wellensittichratgeber. Mit Sicherheit ein ganzes Regal über Golden Retriever. Ich sollte irren. Schildkrötenratgeber waren in annehmbarer Menge vertreten.
Für Anfänger.
Ich war einer. Ingeborg nicht. Egal. Ich klappte das Buch auf, an irgendeiner Stelle. Schon nach wenigen quergelesenen Seiten offenbarte sich Ingeborgs ganzes Drama.

Das „Reiseterrarium“ war in Wirklichkeit ein Aquarium. Nicht für Landschildkröten geeignet. Und Landschildkröten waren keine Terrariumstiere, sondern Tiere für Freigehege. Keinesfalls „pflegeleicht“. Meine Augen rasten über die Buchseiten.
Noch mehr als drei Wochen. In einer kleinen studentischen 2-Zimmer-Wohnung. Etwas musste geschehen.

„Was hast du getan?“
Der Dichter blickte ratlos ins Wohnzimmer.
Vor einem Möbelmarkt hatte ich einen 150 x 200 Meter großen Pappdeckel mit leichten Seitenkanten ergattert und ihn flach auf den Boden gelegt. Esstisch und Stühle mussten weichen.
Ingeborgs künftiges Papprefugium war gefüllt mit Rindenhumus, Erde und Steinchen. Große Steine und Töpfchen mit Salbei bzw. Thymian standen daneben. Zwei Versteckhöhlen aus Holz. Ein großer, flacher Wassernapf. Ein Haufen frischer Löwenzahn. Und über allem thronte die aus meinen Kosmetiksalon entwendete Infrarotlampe.
„Schön, dass du da bist! Dann kann es jetzt losgehen.“
Ich öffnete die Schlafzimmertür.
Pock.
Ingeborg fauchte um ihr Leben, als ich sie ins Wohnzimmer trug. Im neuen Wohnzimmerfreigehege abgesetzt, lief sie zunächst verschreckt los. Rammte die Pappwand.
Buff.
Bis zum anderen Ende der Landschaft dauerte es etwas.
Buff.
„Sag nichts! Wart’s ab!“
Buff.
Nach zwei Stunden entdeckte das Tier den infrarotgewärmten Stein, krabbelte hinauf und ruhte.
Ingeborg und ich blickten einander lange in die Augen.
Die Stille war weich.

Was bleibt.

Nach einem schweren Schlaganfall war meine Oma halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Die Ärzte hatten nach dem CT gesagt, sie könne nicht überleben. Auch nicht mehr aus dem Koma erwachen. Sie überlebte. Sie erwachte. Als Vollpflegefall. Es stand außer Frage für meine Mutter, dass sie bei uns betreut würde. Also wurde das gesamte Familien- und Arbeitsleben umorganisiert und Oma zog ein. Mit Krankenbett, Bettstuhl, Krankenhausnachtschrank und einem sehr schiefen, sehr glücklichen Lächeln. Wann immer es ging, verlegten wir Hausarbeiten wie Bügeln oder Wäsche sortieren/zusammenlegen (oder ich meine Schulhausaufgaben) in das Zimmer meiner Oma, damit sie Gesellschaft hatte. Ich erinnere mich oft an jenen Nachmittag, wo meine Mutter bügelte und ich daneben einen Berg von Praxis-Handtüchern zusammenlegte (aus Mutterns Kosmetikinstitut). Trotz der Unfähigkeit, sich artikulieren zu können, konnten wir uns mit meiner Oma verständigen. Es war ein heiterer Nachmittag. Viel mädchenhaftes Kichern. Viele erzählte Geschichten. Plötzlich bedeutete meine Oma mir, sie wolle auch etwas tun. Mit dem beweglichen Arm fuchtelte sie durch die Luft.

„Oma, du kannst keine Handtücher zusammenlegen! Das ist viel zu schwer!“
Energisch schüttelte sie den Kopf. Also ging ich ans Bett, setze meine Oma an die Bettkante und klemmte sie so gut es ging mit Lagerungskissen und hochgeklapptem Kopfteil fest, damit sie etwas Halt hatte und nicht umfiel. Ich zog die Platte des Nachtschranks heraus, schob sie vor meine Oma, legte ihr ein Handtuch darauf. Meine Oma nahm mit ihrem gesunden Arm die gelähmte Hand, legte sie zum Fixieren auf die Handtuchkante. Dann strich sie sehr sorgfältig und mit einer unvermuteten Energie die Knitterfalten aus dem Frottee. Sie faltete das Handtuch Stück für Stück in die von Muttern gewünschte Form. ( „Handtücher müssen exakt so gefaltet und gestapelt werden, Kind!“ Ihr Erscheinungsbild im offenen Regal unterlag immer einer strengen, mütterlichem Blickkontrolle.)

Es dauerte Minuten, bis meine Oma ein Handtuch fertig hatte. Ich legte ihr weitere Handtücher griffbereit hin. Sie strahlte. Die gedankliche Last, anderen eine Last zu sein ohne etwas zurückgeben zu können, fiel für eine kostbare Zeitspanne von ihr ab.

Einige Wochen später beendete ein zweiter, schwerer Schlag Omas Leben. Ich war 16.

Noch heute (29 Jahre später) falte und staple ich die Handtücher so, wie im Kosmetikinstitut meiner Mutter und später in meinem. Und bei jedem Glattstreichen des Frottees sehe ich meine schiefe Oma, mit ihrem schiefen Lächeln und den glücklichen Augen. Weder sie noch meine Mutter waren zu Lebzeiten jemals in Hamburg. Wenn sie wüssten, dass sie nun hier bei mir in der Anwendungstechnik im Regal wohnen, sie kicherten gewiss. Immer noch mädchenhaft.