Ingeborg

Von Schildkröten hatte ich wirklich nicht die geringste Ahnung.
„Hat Marc nichts gesagt?“ Ich blickte den Dichter ratlos an.
„Nein, Marc hat nichts gesagt, also natürlich hat er was gesagt, aber nichts Spezielles. Nicht so viel Banane, die macht den Kiefer weich. Pflegeleicht ist sie. Frisches Wasser und Löwenzahn oder Salat. Mehr müssen wir gar nicht machen. “
„Wenig Banane, o.k.“

Ingeborg. Eine Landschildkröte. Unflauschig. Ungesellig. Kein Streicheltier. Abgegeben für vier lange Wochen bei uns. In einem „Reiseterrarium“, wie Marc es genannt hatte. Ein kleiner Glaskasten mit Deckel, am Boden Sand; eine Art Wassernapf, der wohl zeitgleich einen Tümpel imitieren sollte. Holz. Welke Salatblätter. Wenn sie wenigstens ein Hase gewesen wäre. Oder ein Hamster. Jedenfalls irgendwas, was den Blick erwidert!
Pock.
Ingeborg stieß mit dem Kopf gegen das Glas.
„Das ist normal, hat Marc gesagt. Das legt sich, sobald sie angekommen ist.“
Aha.

Wir stellten das Terrarium ins Schlafzimmer, fernab von Tagesgewusel und Musikbeschallung. Ingeborg sollte ankommen können.
Pock.
Von morgens bis abends lief sie entlang der gläsernen Wand, bis sie am Ende anstieß. Drehte dann um und lief zurück.
Pock.
Pock.
Pock.

Ich blickte auf die Uhr: Viertel vor zwei.
Pock.
„Schläfst du?“
Der Dichter ließ nur ein tiefes, gleichmäßiges Atmen vernehmen.
Pock.
Ich drehte mich auf die andere Seite.
Pock.
Ingeborg schob ihren handtellergroßen Körper unaufhörlich durch den Terrariumssand.
Pock.
Ich zählte meine Atemzüge. Ein-Aus-Ein-Aus-Ein-Aus-Ein-Aus-Pock.

Wenn ich schlafe, schlafe ich wie eine Tote. Man könnte mich wegtragen nachts. Oder ein Feuerwerk neben meinem Kopfkissen abfackeln. Aber jenes Pock, wenn Ingeborgs Kopf gegen die Glasscheibe stieß, drang mir bis ins Mark.
Pock.
Ich lauschte über Stunden. Der Schlaf folgte letztlich der Erschöpfung.

„Ich stell das Terrarium ins Wohnzimmer. Ich halte das nachts nicht aus.“
„Das kannst du nicht machen! Das wäre ja wieder ein Standortwechsel!“ Der Dichter protestierte lautstark.
„Sie raubt mir den Schlaf!“
„Sie muss im Schlafzimmer bleiben! Heute ist doch schon Tag vier. Wenn wir sie wieder umstellen, kommt sie nie an!“
Ingeborg kam auch an diesem vierten Tag nicht an. Als ich abends heimkehrte, hörte ich schon im Flur das unselige, vertraute Geräusch.
Pock.
Zwölf Stunden lang hatte sich Ingeborg tief durch den Sand gewühlt. War durch ihren Trinknapf gewandert und hatte mehrere Schichten pappigen, nassen Sandes auf ihrem Panzer. Sie sah aus wie ein prähistorisches Schnitzel. Der am Morgen ins Terrarium gelegte Blattsalat war unangetastet.
Pock.
Ich klappte den Deckel des Terrariums auf. Ein intensiv muffiger Geruch stieg empor. Mit spitzen Fingern hob ich sie an ihrem Panzer empor. Ein lautes Fauchen begleitete den kurzen Gang zur Küche. Plötzlich spritzte Ingeborg eine Flüssigkeit quer durch den Flur. Ich erschrak. Zwei schnelle Schritte, dann setzte ich sie im Spülbecken ab.
Pock.
Ingeborg stieß gegen den Beckenrand.
Der Schlüssel klackte im Schloss. Der Dichter kam heim. Mir kullerten Tränen übers Gesicht. „Was soll ich denn machen? Was soll ich nur mit dem Tier machen?“
Pock.
Der Dichter, regulär Schöngeist und selten zu pragmatischen Handlungen veranlasst, schob mich aus der Küche, wusch Ingeborg ab und setzte sie zurück ins Terrarium.
Pock.
„Ruf morgen mal irgendwo an, wo man sich mit Schildkröten auskennt. Vielleicht gibt es ja Tipps?“
„Wo ruft man denn da an?“
„In der Zoohandlung vielleicht?“

In diesem Leben vor Internet, Google und Smartphone, telefonierte ich also (zwischen meinen Kundenterminen) Gott und die Welt nach Schildkröteninformationen ab.
Zoohandlungen: „Die Schildkröte ist nicht von uns? Es tut mir leid, dann kann ich Ihnen keine Auskunft geben.“
Ein zoologisches Museum: „Es tut mir leid. Wir haben nur ausgestopfte Tiere.“
Die Uni: „Der Herr Professor ist bis nächste Woche auf Vortragsreise. Aber eine der studentischen Hilfskräfte kann Sie zurückrufen. Allerdings frühestens morgen.“
Ein Landschildkrötenverein: „Am Telefon geben wir keine Auskunft. Aber kommen Sie doch am nächsten Montag zu unserem Vereinsstammtisch!“
Entnervt ließ ich den Hörer sinken. Hob ihn direkt wieder an und sagte alle restlichen Kundentermine des Tages ab. „Ein Notfall. Ein familiärer Notfall. Eine schlimme Kopfverletzung…wissen Sie.“
Man hatte Verständnis.

Ich betrat die Buchhandlung wenig hoffnungsvoll. Wahrscheinlich gab es nur Hunde-, Welpen-, Katzen- und Wellensittichratgeber. Mit Sicherheit ein ganzes Regal über Golden Retriever. Ich sollte irren. Schildkrötenratgeber waren in annehmbarer Menge vertreten.
Für Anfänger.
Ich war einer. Ingeborg nicht. Egal. Ich klappte das Buch auf, an irgendeiner Stelle. Schon nach wenigen quergelesenen Seiten offenbarte sich Ingeborgs ganzes Drama.

Das „Reiseterrarium“ war in Wirklichkeit ein Aquarium. Nicht für Landschildkröten geeignet. Und Landschildkröten waren keine Terrariumstiere, sondern Tiere für Freigehege. Keinesfalls „pflegeleicht“. Meine Augen rasten über die Buchseiten.
Noch mehr als drei Wochen. In einer kleinen studentischen 2-Zimmer-Wohnung. Etwas musste geschehen.

„Was hast du getan?“
Der Dichter blickte ratlos ins Wohnzimmer.
Vor einem Möbelmarkt hatte ich einen 150 x 200 Meter großen Pappdeckel mit leichten Seitenkanten ergattert und ihn flach auf den Boden gelegt. Esstisch und Stühle mussten weichen.
Ingeborgs künftiges Papprefugium war gefüllt mit Rindenhumus, Erde und Steinchen. Große Steine und Töpfchen mit Salbei bzw. Thymian standen daneben. Zwei Versteckhöhlen aus Holz. Ein großer, flacher Wassernapf. Ein Haufen frischer Löwenzahn. Und über allem thronte die aus meinen Kosmetiksalon entwendete Infrarotlampe.
„Schön, dass du da bist! Dann kann es jetzt losgehen.“
Ich öffnete die Schlafzimmertür.
Pock.
Ingeborg fauchte um ihr Leben, als ich sie ins Wohnzimmer trug. Im neuen Wohnzimmerfreigehege abgesetzt, lief sie zunächst verschreckt los. Rammte die Pappwand.
Buff.
Bis zum anderen Ende der Landschaft dauerte es etwas.
Buff.
„Sag nichts! Wart’s ab!“
Buff.
Nach zwei Stunden entdeckte das Tier den infrarotgewärmten Stein, krabbelte hinauf und ruhte.
Ingeborg und ich blickten einander lange in die Augen.
Die Stille war weich.

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