Randmoment

Bevor ich Aachen wieder verlasse, folge ich meinem Impuls und gehe rasch die 600 Meter bis zum Dom. Mit frostroten Fingern betrete ich den Vorraum. Ein Hauch Weihrauch liegt in der Luft. So vertraut. Ich atme tief ein, als ich die Hauptkirche betrete. Das harzig-herbe Aroma legt sich wie eine leicht raue, schützend warme Decke auf jeden filigranen Atemzug.
Wenige Besucher. Nahezu vollendete Stille.
Ich stehe im Halbdunkel und betrachte die goldenen Ornamente über mir. Abendliche Sonnenstrahlen bahnen sich unvermutet ihren Weg durch das Fenster; die Decke beginnt zu glitzern und zu funkeln. Ich schließe kurz die Augen.

„Wenn Sie sich jetzt auf die Zehenspitzen stellen, können Sie direkt über den Rand Ihrer Seele hinaus sehen.“

Überrascht drehe ich mich zur Stimme neben mir. Der Domschweizer ist verwittert und erinnert mich an Kapitän Haddock. Ich weiß nichts zu sagen und lächle. Er drückt großväterlich beide Augen zu zum Gruß und geht weiter. Das Licht am Fenster ebbt ab.

Der Rand meiner Seele. Ich glaubte immer, sie hat gar keinen.

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