Einen Schritt weiter

Nach eineinhalb Stunden Stadtfußmarsch bin ich plötzlich matt. Als wisse er es, schickt mir der Asphalt eine Botschaft: „Es ist nicht mehr weit“.
Meine Füße sehen es anders. U-Bahn-Station „Schlump“ (ja, auch dafür liebe ich Hamburg) ist in Sichtweite. Ich könnte mich in die Bahn setzen. Noch ein wenig ins Anderswo fahren. Fahren. Fahren ist Sitzen ist Gucken ist Ruhen ist schön. Ich komme näher und sehe Menschentrauben an der Bushaltestelle vorm U-Bahn-Eingang. „Heute Schienenersatzverkehr“. Das ist ein Wort, das mich so abschreckt wie Menschentrauben. Hastig eile ich vorbei.
Wenige Meter dahinter halte ich plötzlich an, gehe an den Fahrbahnrand und strecke in bester Anhaltermanier den Daumen empor. Zu meiner eigenen Überraschung. Zu meiner weiteren Überraschung fährt SOFORT ein Auto rechts in die Toreinfahrt hinter mir und hält an. Unsicher drehe ich mich um. Der meint mich. Ich geh hin, öffne die Beifahrertür und gucke hinein.
„Meinste das ernst?“ fragt lachend ein bärtiger Jungmann.
„Bist du ein Mörder?“ frage ich zurück. Er überlegt tatsächlich kurz.
„Heute nicht.“
Ich steige ein.
„Bin unterwegs nach Stellingen.“
„Ich eigentlich nicht. Mir reichts drei Ampeln weiter.“
Das Auto riecht nach Duftbaum, obwohl ich keinen sehe. Himbeer. Oder Kirsch. Die dritte Ampel ist erreicht, bevor ich mich entscheiden kann.
Lächeln, verabschieden, aussteigen. Wie der wohl ohne Bart aussieht? Und ob der Bart nach Himbeer riecht (oder Kirsche)?
Ich gehe weiter.
Das erste Hummelsummen! Ab JETZT ist Frühling. Dazu passt der Löwenzahn am Fuße der Treppe des Hauses, das ich passiere. Das mag ich so am Leben: es blüht selbst dort, wo es marktstrategisch unklug ist.

Gründonnerstagabend

Die halbierte Tomate auf meinem Feldsalat leuchtet mit ihrer Rundung aus der Mitte des Tellers.
„Selbst mein Salat hat eine rote Nase!“ huscht es mir durch den Sinn.

Über mir übt der Opernsänger. Ich sehe ihn immer im Bademantel vor mir. Einem weißen, schneeweißen Bademantel aus dickem Frottee, auf dem gülden und fein „Waldorf Astoria“ steht. Zwei passende Gästetücher hängen im Gästeklo. Tatsächlich hat der Bademantel eine Brusttasche, aus der leicht angeknüllt ein blaukariertes Stofftaschentuch guckt. Heute singt er treppauftreppab „Hahaaaaahaaaaaahaaaaaahaaaaahaaaaa“. Seine Wohnung hat Dielenboden wie die meine, aber fast alles ist ausgelegt mit dünnen Teppichen aus Chinaseide. Nur da, wo er übt liegt ein Flokati, in den er seine behaarten Zehen krallen kann, wenn er von einer Oktave in die nächste springt. Donnerstagabends ist seine Muse da, fläzt im Sessel und blättert in Harper‘s Bazaar. Das ist sophisticated. Niemand liest wirklich in Haper‘s Bazaar. Aber eine Muse kann nicht Brigitte lesen oder Donna. Nicht mal die ELLE. Leider hat sie eine Schwäche für einen billigen Wein aus dem REWE City gleich um die Ecke. Manchmal stört ihn das.
Wenn er die Tonleiter schneller singt, verrutscht der Gürtel am Bademantel. Er schenkt dem keine Beachtung. Aber ich sehe bis in meine Küche den verstohlenen Blick der Muse und dieses leichte Kräuseln auf ihrem Nasenrücken. Ob er jemals wirklich im Waldorf Astoria war? Nachdenklich stelle ich meinen Teller beiseite. Über mir wird es still. Ich habe die Nase nicht aufgegessen.

Brezelbreak

Es sind genau 18 Minuten, die ich in der Schlange des „Hofbräu Imbiss“ am Münchner Flughafen verbringe. Die Schlange ist lang. Ein endloser Bandwurm, der sich kaum vorwärts bewegt. Die junge Bedienung mit den fliedergeschminkten Lippen und der lieblichen Flechtfrisur agiert wie im Zeitraffer. „Wedges? Mit Ketchup oder Sour Cream? Kaffee oder Cappuccino? Welche Größe? Keks?“ Sie blickt nie auf, aber ihr Lächeln ist warm.
Es ist unruhig. Stimmenwirrig. Durchsagen grätschen in Bestellungswünsche. Deutsch ist nicht zu unterscheiden von Englisch oder eilig gehaspeltem „A Maß und zwoa Panini bittschön. Naaa, ned mit am Moorzarella. Die mi’m Schink‘n.“

Rasch ist das neue flink. Die Griffe: routiniert. Ich frage mich, ist das „Flow“ oder Wahnwitz? Panini in den Grill, Würstel auf Teller, Kaffee in Becher, Wedges in Schüsseln, Bier in Krüge, Sandwiches in Tüten, Ketchup auf Pommes, Mayo zu Beilegen, Schnitzel trifft Radi, Cola aus Kühlschrank, Wasser in Flaschen, Salat mit Dressing.

Ich komme an die Reihe, ihre Hand schnellt startbereit zum Kasseneingabedisplay. „Eine Brezel bitte. Ohne Tüte einfach auf die Hand. Behalten Sie das Rückgeld. Unglaublich, wie Sie das hier machen.“ Sie stockt. Dreht sich um, greift zur Brezel, zur Tüte, legt die Tüte wieder weg, hält die Brezel unschlüssig mit der Zange in der Luft. Dann bleibt sie kurz stehen. Blickt erstmals auf. Blickt mich an. Lacht. „Das…ist jetzt so überraschend.“ Ich nehme die Brezel, nicke und gehe.“ Die nächste Bestellung. Ich höre sie fragen „Mustard for the Weißwuaschd?“

Später im Flieger versuche in den Mond zu fotografieren. Er bleibt ein kleiner, aber heller Punkt. Wie manche Begegnungen eben auch.

Schuhschlappe

„Wir führen ab 42,5.“
Manche Sätze lassen mich sogar mittags um zwei ins Bodenlose stürzen. Normalerweise heißt der Satz: „Es tut mir leid, Ihre Schuhgröße haben wir nicht.“
Oder: „Wir führen nur bis 41.“
Im Fachgeschäft für Damen- und Herrenschuhe für Übergrößen wähnte ich mich endlich angekommen. Dachte ich. Tagelang hatte ich mir vorgestellt eine Art Fuß-El Dorado zu betreten. Ich sah mich Schuh um Schuh anprobieren. Auswahl ohne Ende. Pumps, Stiefel, Sneaker.
Passend, grenzenlos. Taumel. Glühende Kreditkarten. Kaufrausch und Stilettokoma.
Und nun war jäh alles zu Ende.
Ich habe jüngst irgendwo gelesen, dass Deutschlands Füße immer größer werden. 46 für Damen sei keine Ausnahme mehr. Aha. Soso. Nur im Bereich 41,5/42 klafft offensichtlich ein nationales Loch von ungeahntem Ausmaß. Meine Füße scheinen keinen Realwert zu haben. Es gibt sie nicht. Denn es gibt keine Schuhe.
„Manche Modelle haben wir aber auch in 42. Manchmal.“
Ich vermute aus Gnade. Staatlich verordnet. Um die Selbstmordrate bei 42er-Nerds gering zu halten. Ich kann mich nicht einmal damit selbst beruhigen, dass „ich da noch hineinwachsen werde“. Ich bin seit mindestens 25 Jahren in nichts mehr hinein gewachsen – allenfalls heraus. Aber wahrscheinlich sehe ich das einfach alles zu eng. Wahrscheinlich sind passende Schuhe in moderater Auswahl restlos überbewertet. Es könnte auch mein Markenzeichen werden, Badeschlappen zum Kostüm zu tragen. Das Leben kann so einfach sein.

Kassenschlangenmoment

„Minus Vier??? Ey, minus vier ist dein IQ, Digga!“
An der Kasse hinter mir hat sich fünfmal hilflos überproduziertes Testosteron im Alter zwischen ca. 16-20 Jahren versammelt. Grillkohle, Bier und Chips.
„Digga, du redest nur Stuss!“
Die alte Dame vor mir dreht sich um. Blickt mich an. Blickt die Diggas an.
„Digga, du regst mich echt auf, Digga!“
Unwillkürlich muss ich an schlechte Verkäufer denken, die den Kundennamen zwecks persönlicher Bindungsherstellung übermäßig oft betonen. „Dieses Angebot, Frau Digga, ist speziell für Sie entwickelt worden, Frau Digga.“ Ich muss laut lachen. Man blickt kurz zu mir. Sogar die rothaarige Kassenfee mit der türkisfarbenen Modebrille. Blick: streng.

An der Nebenkasse wuselt sich ein kleiner Japaner an der Warteschlange vorbei. „Darf ich vor? Ich hab nur drei Teile.“ Ein mächtiger Bartträger mit Tattoo am Hals bremst ihn triumphierend aus: „Ich hab nur zwei. Und nun?“ Der Japaner zögert. „Sie können mich trotzdem vorbeilassen!“ Spricht es und flitzt vor. Der Bartträger schnauft sprachlos. Ich muss wieder lachen. Versuche es diesmal leise. Hoffnungslos.
„Digga, guck dir den Floh an, Digga! Der machts richtig!“ tönt es rustikal hinter mir, als der Japaner aus dem Supermarkt saust.
Die alte Dame vor mir hat ihre Waren aufs Band gelegt. Den leeren Korb hält sie einen Moment unentschlossen in der sichtbar zittrigen Hand. Dann dreht sie sich um, streckt den Korb an mir vorbei den Jungs entgegen und sagt: „Wären die Herren Digga so nett, das wegzustellen?“
Blicke: höchst perplex.
„Krasse Ansage, ey!“.
Der Korb wird ordentlich weggestellt.
Das Leben in Freitagabendkassenschlangen in der Hoheluftchaussee ist unbezahlbar!