Samstagsmoment

„Warum gehst du denn nicht hier rüber?“
Die kleine, ältere Dame mit dem rotwangigen Puppengesicht ist deutlich ungehalten. In der hanseatisch-nasalen Sprachmelodie liegt eine ungeduldige Schärfe. Man ist auf dem Weg zum Markt. Die Baumwollbeutel baumeln leer und leicht die Handgelenke hinunter; ihre Hände sind tief in den Jackentaschen vergraben. Graue Locken rollen sich zu einem natürlichen Pelzkranz um den Rand der auberginedunklen Strickhaube. Die Dame steht auf der Straße, aber noch zwischen zwei parkenden Autos. Ihr Mann ist auf dem Gehsteig geblieben, dafür bereits einige Meter weiter gegangen.
„Ja, ja. Geh du mal!“ ruft er, ohne sich umzudrehen. Als Anton und ich ihn passieren, blickt er kurz eindringlich in die trüb-blinden Augen des Hundes, dann in meine und macht einen leichten Schritt seitwärts, um uns Platz zu machen.
„Hier wär doch frei gewesen!“ tönt es verständnislos in meine Richtung.
„Ja, ja!“
Anton bremst beim Baum auf Höhe der Dame ab. Während er schnuppert und mit tänzelnden Pfoten die feuchte Erde bearbeitet, drehe ich mich um. Dabei streift mein Blick eine Fensterbank mit Blumenkasten, in dessen Mitte ein dunkler, schmaler Buddha sitzt. Den Rücken hat er der Straße zugewandt. Was im ersten Moment aussieht wie ein kleiner Rucksack, entpuppt sich als Meisenknödel, der um den Buddhahals hängt.
„Ich bin jetzt drüben!“ lässt die Dame ihren Mann wissen.
„Ja, ja, sei du drüben!“ ist seine launige Antwort. Anton zerrt mich von der buddhistischen Knödelstation weg. Es beginnt leicht zu tröpfeln. Auf der anderen Straßenseite ploppt ein türkisgreller Schirm auf. Die Marktzeit lässt es rege sein auf dem Gehsteig. Väter mit Kind auf den Schultern, Babys in Tragetüchern. Paare händehaltend oder untergehakt. Einkaufszettelstudierende Menschen, deren Nasenrücken sich im nun windigen Sprühregen kräuseln. Ich beschleunige meine Schritte, biege in eine weniger wuselige Seitenstraße ab. Entscheide mich um. Gehe zurück und betrete den Markt. Was habe ich ewig nicht gekauft? Heute ist es dran! Chicorée. Habe ich überhaupt je Chicorée gekauft? Ich nehme drei. Drei, weil Ostern ist. Dreifaltigkeit. Am dritten Tage auferstanden. Drei … fühlt sich jedenfalls richtig an. Zwei Orangen. Etwas Brokkoli. Kohlrabi? Ja, bitte. Unbedingt mit Blattgrün. Natürlich. Das darf ruhig unordentlich aus meinem Rucksack wippen.
„Warum nimmst du denn nicht von da?“
„Ja, ja, lass mich mal!“
Am Stand hinter mir das Ehepaar. Er greift gerade ins Suppengrün. Die Dame testet Avocados. Anton zieht Richtung Fischstand. Ich Richtung Ausgang.

Kurz vor der Haustür biegt ein großer, hünenhafter Mann mit einer Sackkarre um die Ecke. Er führt sie nur mit einer Hand. Sein Gang ist einknickend und hat etwas Schmerzhaftes in sich. Die Strickjacke, vom Sprühregen benetzt, wirkt unangenehm klamm. Unten auf der Sackkarrenablage liegt eine gefüllte Bäckertüte. Keine Brötchen, eher Kuchen. In der freien Hand trägt er eine zweite Bäckertüte. Kein Kuchen, eher Brötchen. Spontan möchte ich ihm einen Meisenknödel um den Hals hängen. Aber Anton zieht mich weiter.
Es ist Samstagmorgen in Eimsbüttel.

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