Er hat einen Professorenkopf. Glatze mit Haarkranz aus feinen, silbrigen Löckchen, die sich weich, nahezu flauschig wirr ineinander kringeln und immer bei mir die Frage aufwerfen, ob sie gekämmt werden. Oder sogar gebürstet. Ob es irgendeine Form der regulativen Zuwendung gibt, die natürlich am optischen Chaos nichts ändert. Ohne müsste doch alles verfilzen, oder nicht?
Der Mann ist Blau in Blau gekleidet, nur die Schuhe sind schwarz. Knöchelhoch. Eine Feincordhose, sehr dunkelblau, ein Pullover, etwas weniger blau und darunter ein blaues Hemd, das im Farbton dem seiner prominent im Gesicht wirkenden Augen gleicht. Das Brillengestell ist freilich fein, rund, klein und silbrig. Wie die Locken, denk ich. Als ich in der Sitzreihe auf der anderen Gangseite Platz nahm, sah er kurz zu mir und las weiter. Ein dickes Buch. Außergewöhnlich dick und groß, so dass es sich sofort als Werk der Wissenschaft und nicht der Belletristik outete. Seine Beine so lang, dass er nur schräg in entspannter Haltung sitzen kann; wie gut, dass der Zug nicht voll ist und wir alle die Zweiersitze für uns allein belagern dürfen. Ich setze mich ebenfalls schräg, obwohl ich nicht muss.
Er trägt zwei Eheringe an der linken Hand. Den kleineren direkt am Fingeransatz, seinen eigenen davor geschoben. Das verwundert mich, gefühlt ergäbe es umgekehrt mehr Sinn, denke ich. Sitzt ein größerer Ring vorne nicht locker? Würde er vom kleineren Frauenring nicht sogar etwas fixiert, wenn dieser nach ihm angesteckt ist? Oder gibt es eine festgelegte Ringreihenfolge bei Verwitweten? Vielleicht ist der behutsame Einschluss des Rings zwischen Fingerwurzel und eigenem Ring Ausdruck des Bestrebens, ihn nicht auch noch zu verlieren.
Beide Ringe wirken sicher und fest an seinen Fingern, wie der Cord über den Knien, die Schuhe bis zum Knöchel, der Stift in seiner linken Hand und selbst die Feinlocken im Kranz. Einzig sein Gesicht macht leichte Rüschen bis zur Nase, wenn er sich nach vorne über das Buch beugt.
Unser Zug fährt bis Altona. Wir sind neun Minuten zu früh am Hauptbahnhof. Neun Minuten am späten Abend. Vielleicht bekomme ich eine S-Bahn früher. Am Dammtor packt der wahrscheinliche Professor eine Stulle aus einer Kunststoffbox und beißt hinein. Beißt, schluckt, beißt, schluckt, beißt schluckt. Gar nicht hastig und trotzdem ist das Käsebrot schnell gegessen. Der Geruch verweilt indes. Er greift noch einmal in die Box, jetzt kommen zwei aufeinander gelegte Knäckebrote zum Vorschein, mit viel weißer Creme dazwischen. Er wird krümeln. Es knackt. Er krümelt. Dabei hätte die Creme das Knäcke weich werden lassen können. Drei Minuten bis Altona. Warum isst er die Brote erst jetzt? Knapp vorm Ziel? Beißt, schluckt, beißt. Warum äße ich Brote erst knapp vorm Ziel?
Weil ich sie weder wegwerfen noch mit Hause nehmen wollte. Weil sie mir liebevoll gemacht und mitgegeben wurden, obwohl ich gar keinen Hunger auf zweieinhalb Stunden Fahrt entwickle. Weil ich von einem Sturzhunger überfallen wurde und Stulle essen auf dem zugigen Ankunftsbahnsteig keine Option darstellt. Er krümelt auf Cord.
Ich bin aufgestanden, um mich in Schal und Mantel zu wickeln. Ziehe den Koffer von der Ablage und lasse meinen Blick dabei kurz in die leicht geöffnete Professoren-Kleinreisetasche fallen. Ein Kamm ragt aus einem schmalen Seitenfach, dessen leicht abgewetzte Rückwand andeutet, dass er oft gezückt wurde. Heute ausnahmsweise auf Gleis 5. Wir sind da.
Herrlich, Deine letzten „Wortstränge“, ich liebe sie und verschlinge sie, wenn ich kann, sofort.
Schade, daß wir uns nicht wiedergesehen haben.
Zur Zeit kann ich kaum laufen, bin sehr „gefallen“, nicht auf die
„Schnautze“, nein auf die linke Hüfte – heilt viel langsamer als
das vorherige.
Mach‘ es gut, beobachte die Männer, mit und ohne Kamm, siehste.
Ich grüße Dich – Marie-Luise (fast 81 nun)