Emmi

Der rote Kittel roch nach Hygienespülung und hielt noch die Wärme aus dem Trockenraum. Ich schlüpfte hinein, schloss den rückseitigen Knopf am Kragen und zog die Bänder um die Taille in einer Schleife zusammen.

Bevor ich die Handschuhe überzog, legte ich beide Hände auf das Sargoberteil, sah in die bereits auf Antwort wartenden Augen meines Kollegen und setzte an: „Hier also ist Emmi.“

Vor einer Woche hatte Emmi einen Lavendel auf ihrem Balkon eingetopft. Ihre Finger waren noch erdig und das Klingeln des Handys kam ihr ungelegen, dennoch zog sie es aus der blaugeblümten Kittelschürze, wischte über das Display, rief „Später, Klaus!“ und beendete den Anruf sofort wieder. Es waren die letzten Worte, die Emmis Sohn von ihr hörte.

Weil es kein Später gab und Emmi auch am Folgemorgen nicht zu erreichen war, fuhren Klaus und sein Bruder Winfried zur Wohnung ihrer Mutter. Sie fanden Emmi auf dem Sofa, wähnten sie einen Augenblick lang schlafend, doch beim Näherkommen verriet sich der Tod im allzu fahlen Teint, tiefblauen Fingerspitzen und den nur halb geschlossenen, erstarrten Augen. Als Klaus den Puls suchte, spürte er die Kälte der Haut und die Versteifung des Körpers, aber da hatte Winfried längst die 112 gewählt.

Emmi kam in die Rechtsmedizin, weil der Notarzt in Unkenntnis des bisherigen Gesundheitszustands von Emmi keinen Totenschein ausstellte, so dass die Klärung der Todesursache dem LKA übergeben wurde. Eine übliche und fast alltägliche Routine, die bei den Söhnen jedoch Bestürzung auslöste.

„Und, was war es?“, fragte mich mein Kollege.

„Wohl einfach Herzversagen. Emmi ist 101 und litt seit mehr als 30 Jahren an Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck, was sie mal mehr, mal weniger konsequent medikamentös behandelte. Wie es aussieht, hat sie sich hingelegt und ist gestorben.“

Wir hoben das Sargoberteil ab. Erst am heutigen Morgen war Emmi zu uns gekommen, ich hatte sie noch nicht gesehen. In meiner Vorstellung war sie, wohl ihres Alters wegen, eine schmale Person mit verschieblicher Haut und gestauchter Wirbelsäule. Aber Emmi war drall. Kugelrund. Gealtert wie ein besprenkelter Spätsommerpfirsich, mit weich gepolsterten Handrücken und Schlüsselbeinen. Filigran wirkte allein das weiße Haar, welches ihren Kopf wie mit Puderzucker bestäubt aussehen ließ. Ihr herzförmiger, kleiner Mund war geschlossen und leicht nach innen gezogen, als habe sie sich kurz zuvor ein Bonbon zwischen die Lippen geschoben.

Einen Tag später würde ich auf Winfrieds Handy Fotos von ihr sehen: Emmi in blaugeblümter Kittelschütze in ihrer Küche ohne Lächeln, Emmi in orange-braun-geblümter Kittelschürze auf ihrem Balkon mit Stirnfalte, Emmi in einem gelbgetupften Kleid neben dem Weihnachtsbaum mit bemühter Freude, Emmi mürrisch abwinkend in Nahaufnahme: „Lass das!“

Die zuletzt getragene Kittelschürze lag, der Totenschau am nackten Körper wegen zerschnitten, neben ihren Beinen, ebenso Schlüpfer, BH-Hemdchen und ihre Puschen. Von Winfried und Klaus hatte ich eine frisch gebügelte Kittelschürze mit grün-blauem Rautenmuster bekommen, Unterwäsche und Nylonstrümpfe. Die Puschen waren ja schon hier.

„Sie hat nie etwas anderes getragen, außer zu Weihnachten, Geburtstagen und wenn sie zum Arzt ging. Aber sie ging kaum zum Arzt.“

„Hui, sie war offensichtlich mit Gesundheit gesegnet.“

„Eher mit Ignoranz“, sagte Klaus, wobei sein Blick sofort entschuldigend zum jüngeren Bruder glitt.

Emmis Pfirsichkörper wies nach nunmehr einer Woche erste grüne Stellen am Bauch auf. Unter den Fingernägeln waren Erdreste vom Lavendelpflanzen, am linken Handgelenk trug sie eine kleine goldene Uhr mit kaum erkennbarem Zifferblatt, deren unbewegliches Metallarmband die Haut merklich zusammendrückte. Der offene Sarg gab den strengen Geruch der Rechtsmedizin frei, vermischt mit der süß-herben Note innerer Zerfallsprozesse. Dennoch gab es mehr zu pflegen als „hygienisch zu versorgen“, denn es waren keine Kanülen und Katheter zu ziehen, keine Wunden zu schließen, auch kein Dekubitus zu verpflastern. Emmi war tot, aber unversehrt.

Am Nachmittag würde Emmis Enkel Stefan, Winfrieds Sohn, kommen, der Emmi immer „Ommi“ genannt hatte, weil er ihren Namen so mochte, Emmi sich aber zeitlebens eine Ansprache mit ihrem Vornamen verbeten hatte.

„Ein Enkel ist wenig, wenn man vier Kinder in die Welt gesetzt hat“, sagte Winfried schon bei unserem ersten Gespräch.

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Emmi hatte früh, mit einundzwanzig, den fünfzehn Jahre älteren Karl geheiratet, der zwar lebend aus dem Krieg, aber nicht wieder in seine Menschlichkeit gekommen war. Er arbeitete als Schlosser, trank anfangs nur abends, später schon mittags und schlug Emmi mit dem Teppichklopfer, wenn sie es nicht richtig machte. Anfangs machte Emmi nur abends nichts richtig, später schon mittags.

 1946 kam Heide zur Welt, 1948 Inge, 1949 folgte Klaus, 1951 Winfried. „Orgelpfeifen, kurzzeitig“, ergänzte Klaus, strich mit Hand über das Tischholz bis zur Kante und ließ die Finger kleine Wellen trippeln.

Während Heide mit drei Jahren an den Masern starb, vollendete Inge immerhin ihr dreiunddreißigstes Lebensjahr, bevor der Gebärmutterhalskrebs siegte. Emmi wurde nur zwei Mal in ihrem Leben weinend gesehen. Das erste Mal am Sterbebett, als Inge noch atmete. Wie in Wehen presste Emmi „Alles umsonst, alles umsonst!“ von bitteren Lippen und die Tränen folgten dem Wort.

Nach Karls Tod, Winfried war gerade eingeschult worden, hielt Emmi die Familie mit Hauswirtschafts- und Putzstellen über Wasser. Von Karl waren nur Schulden und der Teppichklopfer geblieben. Damit schlug sie Inge, Klaus und Winfried windelweich, wenn sie etwas nicht richtig gemacht hatten, was oft vorkam. Danach schmierte sie ihnen Honigbrote, mit extra dick Butter, kochte Kakao und sagte „Wird schon“, bevor sie ungelenk das Zimmer verließ.

Emmi war schon über achtzig, als Klaus sie mit Fragen und einer vagen Hoffnung auf ein Bedauern konfrontierte. „War ja kein Mann mehr im Haus“, blieb Emmis einziger Satz dazu, nicht erklärend, sondern verärgert.

Das zweite Mal weinte Emmi am 1. Juli 2005 in Berlin als Udo Jürgens „Merci Cherie“ am Klavier anstimmte.

Stefan hatte seiner Ommi den Konzertabend und die Reise dorthin zum achtzigsten Geburtstag geschenkt. „Unsinn“, schüttelte sie den Kopf. Die ganze Zugfahrt nach Berlin murmelte sie „Verschwendung“ drückte dabei Stefans Hand und nickte vor Aufregung immer wieder ein.

Stefan liebte als Kind die Honigbrote und den Kakao von Ommi. Die schmierte sie immer, mit extra dick Butter, wenn er etwas richtig gemacht hatte, und das war oft, wenn er sie besuchte. Sie besaß einen alten Teppichklopfer, mit dem er als kleiner Junge Rockgitarrist spielte.

„Lass mal das Ding weg, bringt Unglück“ sagte sie und schenkte ihm eine richtige Gitarre.

Wenn sie das Essen in der Küche vorbereitete, lief das Radio und Stefan bemerkte natürlich, dass Emmi lauter drehte, wenn ein Lied von Udo Jürgens kam. Und dass sie innehielt, wenn es „Merci Cherie“ war. Alles sein ließ, sich nicht rührte und manchmal sogar die Augen schloss.

Als er größer und erwachsen wurde, kam er zwar seltener, aber immer noch gern zu Ommi. „Spielste noch?“, fragte sie dann mit Blick auf den Teppichklopfer und Stefan nickte, auch wenn er inzwischen zwei andere Gitarren hatte.

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Wir betteten Emmi vom Waschtisch um, in einen frisch ausgeschlagenen Erdsarg. Eichenholz natur, weil „sie ja auch in Eiche gewohnt hat“, sagte Klaus. Sein Haar war so schütter und weiß wie das seiner Mutter, ansonsten teilten sie wenig Äußerlichkeiten.

Am Nachmittag kamen Klaus, Winfried und Stefan mit seiner Gitarre und einem frischen Bund Lavendel. Eineinhalb Stunden saßen sie sehr still bei Emmi. Als sie gehen wollten, fragte ich sie, ob sie zusammen den Sarg schließen möchten.

„Ja, sehr gerne!“

Nachdem wir das massive Oberteil sorgsam aufgelegt hatten, standen wir schweigend einander gegenüber.

„Ich spiel doch etwas!“ Stefan griff zur Gitarre und rückte einen Stuhl heran. Ich nickte, ging und zog hinter mir die Schiebetür sachte zu.

Die Melodie von „Merci Cherie“ drang zart und bestimmt bis hinaus in den Flur. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Klaus und Winfried weinten.

4 Antworten auf „Emmi“

  1. Ja, genau, Bettina: So traurig und erschütternd sind manche Geschichten, wunderbar eingefangen, auch dass die übernächste Generation mehr Leben haben darf….Herzensgruß von Champa

  2. Vielen Dank liebe Betti, wie traurig schön und berührend..
    Die Kittelschürze erinnert mich an meine geliebte Oma (Jahrgang 1892).

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