Ein Anfang (mit Mia)
Mia hat angerufen. Ob ich einen Baum mache, hat sie gefragt.
„Du machst keinen Baum?“
„Nein, Mia.“
„Hast du einen Adventskranz?“
„Nein, aber ich hab heute meine Fensterbänke adventlich geschmückt.“
„Bei mir wird alles lila dieses Jahr. Ich habe die Kiste aus den Neunzigern aus dem Keller geholt. Meine Neunziger waren lila. Ich war sicher, sie wären grün gewesen, aber gut, nun wird es eben lila. Wie wird es bei dir?“
„Wie früher“, wollte ich sagen. Hab dann aber einfach „rot“ gesagt, weil mir auffiel, dass „wie früher“ die Frage nach sich ziehen könnte, welches „früher“ ich meine. Die Kindheit? Die Neunziger? Die zweitausender Jahre? Oder „wie früher“, als ich noch nicht alleine lebte?
Drei ist nicht sieben.
Donnerstags um 8:00 Uhr.
„Marathon sollten Sie in den nächsten 14 Tagen noch nicht laufen.“
„Sehe ich aus als liefe ich Marathon?“
„Nein. Allerdings sehen viele Menschen, die Marathon laufen, nicht wie Marathonläufer aus.“
„Aber spazieren darf ich?“
„Hatten Sie damit pausiert?“
„Nein.“
„Und jetzt erwarten Sie ernsthaft eine Antwort? Das Schlimmste ist ja rum. Aber wenn Sie schöne Narben wollen, dann zerren Sie halt nicht an ihrem Gewebe.“
„Ja, das sagte Ihr Kollege schon.“
„Haben Sie gezerrt?“
„Bestimmt. Unbewusst.“
„Tut das weh?“ (Er drückt auf die Naht an der Schulter)
„Nein.“
„Hier?“ (Er drückt auf die Naht am Bein)
„Aua.“
„Ernsthaft?“
„Ja, natürlich ernsthaft. Ich sag doch nicht Aua, wenn es nicht weh tut.“
„Auf einer Skala von 1 bis 10?“ „Drei ist nicht sieben.“ weiterlesen
Köpfe
Die beiden Frauen sind klein. Zwillinge. Gleichgekleidete Zwillinge. Sie tragen blaue Hosen und blaue Anoraks, die gleichen grauen Rucksäcke, aus deren seitlichem Netzfach die gleichen blassgrünen Trinkflaschen ragen. Wanderstöcke. Selbst die Schuhe sind gleich. Ich vermute spontan eine gleiche Anordnung der im Sohlenprofil eingeklemmten Kiesel.
Sie setzen sich. Im Bus. Nebeneinander, eine Reihe vor mir, allerdings auf der anderen Seite. Im Viertelprofil sehe ich die Ränder der gleichen Brillengestelle. Der gleiche Hautton, blass und teigig. Das Haar wurde nicht gekämmt, weist bei beiden eine deutliche Strähnigkeit auf, was das gesamte Erscheinungsbild von „leger“ zu „leicht ungepflegt“ verschiebt. Ich blicke auf die Hinterköpfe, auf denen das Haar im oberen Bereich verwirbelt auseinanderklafft, in alle Richtungen platt gedrückt von der Nacht auf dem Kopfkissen. Obwohl sich diese Kissenabdruckstellen in den Ausprägungsdetails etwas voneinander unterscheiden, bin ich fasziniert davon, wie groß auch hier der optische Gleichklang ausfällt.
Ich frage mich, ob sie gleiche Stimmen haben. Ob Zwillinge überhaupt gleiche Stimmen haben. Frage mich, warum ich mich das noch nicht gefragt habe. Und welche Zwillinge ich kenne. Denke an die Kessler-Zwillinge, kann mich aber nicht an ihre Stimmen erinnern, nur an ihre Beine und daran, dass sie den Scheitel auf unterschiedlichen Seiten hatten. Denke an Ben und Tobi aus meiner Schulzeit. Kann mich nicht an ihre Stimmen erinnern.
Die beiden Frauen wirken jünger, weil sie klein sind, dabei weist das Gesamtbild mindestens auf das fünfte Lebensjahrzehnt hin. Einzelne Haare wippen im Rhythmus der Bodenwellen.
Der Bus stoppt. Eine Wandergruppe steigt ein. Offensichtlich zwei Ehepaare. Die Männer tragen Strohhüte ohne was drunter, die Frauen geschummelte Locken. Wenig Sommer in den Gesichtern und viel Herzschwäche. Funktionskleidung in farblicher Abstimmung. Das erste Paar beige-betont, das zweite blau.
Nachdem sie bezahlt haben gehen sie in den hinteren Bereich des Busses.
„Ich bin im Bus“, sagt plötzlich die Frau auf dem Sitzplatz vor mir in ihr Handy, „da hast du Glück, dass du mich erreichst, steige gleich aus!“ Ob sie wohl dann aus der Welt ist?
Beim Wort „Glück“ werde ich des Marienkäfers gewahr, der über ihre stark fixierte Frisur vom Ohr Richtung Oberhaupt klettert. Gleich steigt er aus, denk ich.
Von den Zwillingen muss eine niesen.
Altona
Die große, blonde Frau, mit dem fast perückenhaft dichten, überschulterlangen Schopf blieb abrupt im Eingangsbereich des Drogeriemarkts stehen, schob die nach vorn gerutschte Sonnenbrille weiter zurück ins Haar und blickte angestrengt auf ihr Handydisplay. Ihr Stehenbleiben stoppte auch mich, die ich just hatte eintreten wollen, aber an der Frau mit wegstehender, prall gefüllter Umhängetasche gab es kein Vorbeikommen.
Ende fünfzig mochte sie sein, mit frischer Toffifeebräune und lachsfarbenen Fingernägeln. Das Kleid in leuchtendem Aquamarin, wadenlang, v-dekolletiert und zu meiner Irritation mindestens eine Nummer zu klein, so dass sich jedes Detail ihres vielformigen Körpers inklusive der Unterwäsche außerordentlich abzeichnete. Es irritierte mich deshalb, weil nichts an dieser Frau zufällig war. In den Ohrringen wiederholte sich der Aquamarinton des Kleides ebenso wie in ihren Augen und dem offensichtlich edelmetallbasierten Ring an ihrem linken kleinen Finger. Die Haare hatten glätteisengeformte Wellen, die Füße steckten in sommerlichen weißen Leinen-Peeptoes mit Korkblockabsatz. Alles saß. Das Kleid jedoch nicht im geringsten.
„Bist du das, Klaus?“ Sie hielt das Handy nunmehr butterbrotgleich auf Mundhöhe und blinzelte ins Gegenlicht der Frühabendsonne. Während sich andere Kunden vorbei an der rege mit Klaus sprechenden Dame schlängelten, was diese mit einem Linksschritt aufmerksam erleichterte, stand ich weiter vor dem Geschäft und schaute auf die Aquamarinsilouhette, die sich auf Zwerchfellhöhe bei jedem Satz erst einzog und dann ausdehnte. Dann schwieg sie und nickte und nickte und nickte.