Kinomoment

Einer der Nachteile des Kinos. Während des Abspanns gewährt die Dunkelheit einen zumindest relativ geschützten Raum für die kullernden Tränen. Doch der Moment, in dem das Licht angeht und man grell ausgeleuchtet den Blicken der anderen ausgesetzt ist, kommt unbarmherzig. Also bleibe ich sitzen und gucke einfach auf die Leinwand. Gehe als letzte aus dem Saal. Husche noch einmal auf die Damentoilette, um mein derangiertes Äußeres zu ordnen. Vor dem Kino fällt mir auf: Meine Mütze fehlt! Ich gehe zurück, der Einlass für den nächsten Film hat schon begonnen.

„Ich glaube meine Mütze liegt noch im Saal.“
Der kleine, leicht schiefe, ältere Mann, der die Karten kontrolliert, bedeutet den Menschen hinter mir, dass sie warten müssen. Mit einer weiteren Handbewegung fordert er mich auf zu folgen.Er trägt eine braune Anzughose aus Synthetik. Sie knistert, als er auf dem Teppich durch die Stuhlreihe geht – ohne Zögern exakt zu dem Platz, auf dem ich gesessen habe.
„Meine Herrschaften, darf ich kurz bitten?“ Wieder dirigiert er mit einer Handbewegung. Die Herrschaften stehen auf.
„Würden Sie bitte kontrollieren, ob hier eine Mütze liegt?“ Er sieht mich an:“Sie haben genau hier gesessen, nicht wahr?“
„Ja.“
Die Herrschaften kontrollieren.
„Keine Mütze?“
Kopfschütteln.
Er sieht mich wieder an:“Keine Mütze.“

Wir gehen hinaus.
„Moment!“
Er geht an den Getränkeverkaufstresen, greift eine Mini-Tüte Gummibärchen. Ich denke: „Wie nett!“
Möchte schon die Hand ausstrecken. Doch der Mann steckt die Gummibärchentüte in seine Hosentasche, beginnt mit salzlosem Blick ins Leere die Karten zu kontrollieren und meint:“Fragen sie doch noch mal an der Kasse. So, die nächsten …?“

Ungefähr 50m vom Kino entfernt finde ich meine Mütze. Jemand hat sie auf die Leuchte einer Baustellenabsperrung gesetzt. Am Ende wird eben alles gut.

kino

Zuletzt mit R

Zuletzt mit R.

Die Tür schließt. Im Raum
der letzte Atemzug ist laut,
als bräuchte Wärme einen Klang.
Vorm letzten Lidschlag blitzt der Blick.
Man hält die Hand, das Wort, die Zeit
an.

D sehen

Der Flieger ist verspätet. Ein Kaffee verkürzt die Wartezeit. Diesmal wähle ich Mövenpick. Dort bin ich sonst nie. Tu jeden Tag etwas, wovor du …naja. Ok. Ich habe keine Angst vor Mövenpick. Die kleinen Café-Tische sind alle belegt. Nachdem ich meinen Kaffee auf einem kleinen Silbertablett erhalten habe, steuere ich die hohen Langtische mit den Barhockern an und nehme Platz. Schräg gegenüber sitzt ein Mann in einem sehr blauen Pullover und liest. Ich bastele Milchschaumtürmchen mit dem Löffel. Blicke ins Outlook auf meinem Handy. Mein Tischnachbar schnauft kurz amüsiert in sich hinein. Sein Buch scheint Witz zu haben. Meine E-Mails nicht.

Auf sein Schnaufen folgt ein Glucksen. Dann lacht der Mann laut auf, wobei sich die Lachlaute leiser werdend in einem spitzbübischen Kichern verlieren. In Sekundenbruchteilen durchzucken mich Erinnerungsgefühle. Eine Falltür öffnet sich in tiefste Vergangenheit. Ich sause ungebremst den Schacht hinab, in einen lang beiseitegelegten Moment. Mein Blick friert auf dem Handydisplay ein.

Mein Gott!
Der lacht wie…wie…also, der lacht exakt (wirklich exakt) wie D! Mein Herz liegt klopfend am Boden. Sag, dass es nicht D ist, der dort sitzt! Niemals wird hier in Hamburg, an diesem Holztisch, D sitzen! Einfach so. Mir schräg gegenüber. Mit Kaffee. Bei Mövenpick. Ohne Drehbuch und Hintergrundmusik. Im sehr blauen Pullover. Niemals.
D, den ich zuletzt (mein Gott!) vor 26 Jahren gesehen habe. Oder einigermaßen gesehen habe, weil ich damals vor lauter Heulen gar nichts mehr sehen konnte. Siebeneinhalb Stunden habe ich geheult. Die ganze Zugfahrt nach Hause.
Mein Gott! Wieder das Lachen. Das Lachen. Sein Lachen.
Das Eine.
Etwas in mir fällt zusammen. Mir ist nicht schwindelig, obwohl die Welt wankt. Ich muss ihn angucken. Muss prüfen, dass ich mich irre. Nicht irre. Irre. Nicht irre. Ich hebe sacht den Kopf. „Wirbel für Wirbel nach oben rollen!“, wie die Fitnesstrainer stets anweisen.
Er ist es! Ich sehe es sofort. D!
Unbegreiflich, dass ich es nicht gleich gesehen habe, als mein Blick ihn flüchtig beim Hinsetzen streifte. Er ist es! Als wäre nicht ein Tag vergangen. Nicht eine Minute. Die Haut so ockergolden warm. Die flachsblonden Locken sind angegraut, aber ungezähmt jung. Er trägt noch immer keine Uhr. Der Ring wirkt so überflüssig, wie diese Begegnung.

Ich schaue nicht, ich starre jetzt. Kann nirgends anders hinblicken. Er liest. Lass bloß den Blick im Buch! Lies! Ich muss dies Gesicht mustern, mit angehaltenem Atem. Nicht verstohlen. Aus den Augenwinkeln. Geradeheraus. Ich stöbere mich durch unbekannte Vertiefungen und vertraute Grübchen. Selbst meine Nasenflügel erinnern sich an die seinen.

(Zu googeln warst du nie. Das Netz kennt nichts von Dir. Ich war sogar mal an dem Punkt zu glauben, du hättest niemals existiert. Dagegen spricht die eine Frage, die ich hab immer stellen wollen.)
Die Eine.

Er gluckst. Ich hebe Milchschaum aus der Tasse. Schmeckt süßlich, einen Hauch nach Zimt. Ich trinke in tiefen Zügen die halbe Tasse leer.
Und jetzt? Sag ich: Hallo?
Nach 26 Jahren?
Sag ich: Ach, D! Du hier?
Frag ich: Wohin geht deine Reise, D?
Tipp ich ihm einfach auf die Schulter? Er sieht mich an. Ich schmier ihm eine?
Die Eine.
(Mit Schmackes, wie wir Rheintöchter zu sagen pflegen)

Mein Kaffee ist gleich leer. Letzter Schluck. Bis zum geänderten Gate hab ich von hier aus vier Minuten. Ich stehe auf. Das Herz klopft ruhig wie ein Taktell.

Ich geh.

Küken im Gras

(Im März 2012)

„Hilfe! Sie müsse helfen! Ich brauche Polizei!“
Der tief südländisch aussehende Mann mittleren Alters stürmt, wild gestikulierend, auf mich zu.
„Warum brauchen Sie Hilfe?“
„Da! Schaue Sie!“
Der Mann zeigt auf die an den Park grenzende Wiese. Im Gras sitzt, sehr flaumig und verflauscht, ein Entenküken.
„Sitzt da ohne Eltern! Sitzt da schon eine halbe Stunde! Müsse rufe Polizei!“
„Ich glaube die Polizei kommt nicht bei Entenküken.“
„Feuerwehr?“
„Nein, ich glaube die Feuerwehr kommt auch nicht!“
„Habe gedacht Sie wisse Rat! Sehen Sie tierlieb aus, wisse bestimmt Rat!“

Ich blicke auf das Küken. Dann auf den Mann. Letzterer wirkt akut hilfloser, als das Tierchen im grünen Gewächs. Freitagabend. Wo ruft man am Freitagabend mit Kükenproblemen an? Wen ruft man am Freitagabend mit Kükenproblemen an?
Ich google einen Tierarzt. Tatsächlich erreiche ich noch jemanden in der Praxis, schildere kurz die Situation. Der Ratschlag ist nüchtern:
„Warten Sie bis morgen früh, wenn es dann noch da sitzt, können Sie es ja zu sich nehmen. Aber dann haben sie ein Küken.“ Ah. Ach.

Ich rufe im Wildpark an – vergebens.
Schließlich die Notrufnummer des Tierheims.
„Guten Tag, vor mir im Gras sitzt ein Waisenküken, ist man mit sowas bei Ihnen richtig?“
„Ja, wir haben heute schon mehrere…“
Ein Rauschen unterbricht das Gespräch. Im Tierheim scheint es einen Wasserfall zu geben.
„Verzeihen Sie, ich bin grad auf der Toilette … ich bin allein im Notdienst, also jedenfalls können Sie das Küken bringen!“
Als ich lächle, hellt sich auch die Miene des Mannes auf.
„Komme Feuerwehr?“
„Nein, aber ich kann das Küken ins Tierheim bringen.“
Der Mann hüpft. „Kleine Ruuuudi, kleine Rudi, komms du gleich ins Warme.“
„Sie nennen es Rudi?“
„Ja, hat er Locke auf die Kopf, sieht aus wie Rudi Völler.“
Perplex mustere ich das Tier: Keine einzige Locke auf dem Kopf. Kein bisschen Rudi Völler.

„Danke, viele Danke. Bin ich so froh, dass die Ente komme ins Warme.“
Der Mann bückt sich. „Ruuuuuudi.“ flüstert er, hebt das Küken hoch und reicht es mir vorsichtig. Mir war nicht bewusst, dass Küken kalte Füße haben können.

Der Mann und ich blicken einander unschlüssig an. Wie sollen wir uns verabschieden? Es gibt diesen Impuls einander zu berühren. Er wirkt, als wolle er mich umarmen. Auch ich möchte meinem Komplizen eine Geste der Verbundenheit zukommen lassen. Aber wir bleiben fremd. Und ich habe ein Küken in den Händen.
„Ruuuuudi.“
Wir nicken. Sagen nichts.

40 Minuten später saß Rudi unterm Rotlicht.

Nur für eine Nacht

Der Mann an der Rezeption sieht ein wenig so aus, als habe er zu lang in Formaldehyd gelegen. Er spricht leise. Haut und Haar haben die gleiche Farbe, die wässrigen Augen warten geschützt hinter den Gläsern einer randlosen Brille auf den nächsten Lidschlag. Was nur irritiert mich? Als er spricht, ist es klar: Er hat kein Lippenrot. Sein Mund ist ein unscheinbarer Spalt unter der Nase.
„Sie haben ein schönes Zimmer. Ein schönes Zimmer.“
Er öffnet die Tür zu einem langen Korridor und lässt mich vor gehen.
„Am Ende des Flurs.“ Es ist kalt. Die Wände haben Gänsehaut. Ich verstehe erst beim zweiten Blick, dass es nur eine Raufasertapete ist.
Aus einem der Zimmer tönt heftiges Geigenspiel. Wenn mir der Formaldehydmann jetzt ein Messer in den Rücken schiebt, wäre mein letztes Schnaufen gar nicht zu hören. Ich bleibe stehen. 231.
„Darf ich?“ Die quarkigen Hände schließen die Tür auf. Der Mann tritt zur Seite. Ich blicke ins Zimmer. Sehr hoch, sehr weiß, sehr langgezogen.
Das Bett ist riesig. Das (obligatorische) Bild darüber hängt weit rechts. Zu weit rechts, halb über den Bettrand hinaus. Es zeigt einen Fabrikbrand von 1801.
Er reicht mir die Schlüssel. Seine Fingerkuppen berühren meine Handinnenfläche. Er muss schon länger tot sein.
„Das ist ein schönes Zimmer, danke.“ sage ich.
Er nickt.
„Sie werden gut schlafen. Und lang.“
Er geht.
Einen Augenblick lang sehe ich aus wie die Tapete.