Küken im Gras

(Im März 2012)

„Hilfe! Sie müsse helfen! Ich brauche Polizei!“
Der tief südländisch aussehende Mann mittleren Alters stürmt, wild gestikulierend, auf mich zu.
„Warum brauchen Sie Hilfe?“
„Da! Schaue Sie!“
Der Mann zeigt auf die an den Park grenzende Wiese. Im Gras sitzt, sehr flaumig und verflauscht, ein Entenküken.
„Sitzt da ohne Eltern! Sitzt da schon eine halbe Stunde! Müsse rufe Polizei!“
„Ich glaube die Polizei kommt nicht bei Entenküken.“
„Feuerwehr?“
„Nein, ich glaube die Feuerwehr kommt auch nicht!“
„Habe gedacht Sie wisse Rat! Sehen Sie tierlieb aus, wisse bestimmt Rat!“

Ich blicke auf das Küken. Dann auf den Mann. Letzterer wirkt akut hilfloser, als das Tierchen im grünen Gewächs. Freitagabend. Wo ruft man am Freitagabend mit Kükenproblemen an? Wen ruft man am Freitagabend mit Kükenproblemen an?
Ich google einen Tierarzt. Tatsächlich erreiche ich noch jemanden in der Praxis, schildere kurz die Situation. Der Ratschlag ist nüchtern:
„Warten Sie bis morgen früh, wenn es dann noch da sitzt, können Sie es ja zu sich nehmen. Aber dann haben sie ein Küken.“ Ah. Ach.

Ich rufe im Wildpark an – vergebens.
Schließlich die Notrufnummer des Tierheims.
„Guten Tag, vor mir im Gras sitzt ein Waisenküken, ist man mit sowas bei Ihnen richtig?“
„Ja, wir haben heute schon mehrere…“
Ein Rauschen unterbricht das Gespräch. Im Tierheim scheint es einen Wasserfall zu geben.
„Verzeihen Sie, ich bin grad auf der Toilette … ich bin allein im Notdienst, also jedenfalls können Sie das Küken bringen!“
Als ich lächle, hellt sich auch die Miene des Mannes auf.
„Komme Feuerwehr?“
„Nein, aber ich kann das Küken ins Tierheim bringen.“
Der Mann hüpft. „Kleine Ruuuudi, kleine Rudi, komms du gleich ins Warme.“
„Sie nennen es Rudi?“
„Ja, hat er Locke auf die Kopf, sieht aus wie Rudi Völler.“
Perplex mustere ich das Tier: Keine einzige Locke auf dem Kopf. Kein bisschen Rudi Völler.

„Danke, viele Danke. Bin ich so froh, dass die Ente komme ins Warme.“
Der Mann bückt sich. „Ruuuuuudi.“ flüstert er, hebt das Küken hoch und reicht es mir vorsichtig. Mir war nicht bewusst, dass Küken kalte Füße haben können.

Der Mann und ich blicken einander unschlüssig an. Wie sollen wir uns verabschieden? Es gibt diesen Impuls einander zu berühren. Er wirkt, als wolle er mich umarmen. Auch ich möchte meinem Komplizen eine Geste der Verbundenheit zukommen lassen. Aber wir bleiben fremd. Und ich habe ein Küken in den Händen.
„Ruuuuudi.“
Wir nicken. Sagen nichts.

40 Minuten später saß Rudi unterm Rotlicht.

Nur für eine Nacht

Der Mann an der Rezeption sieht ein wenig so aus, als habe er zu lang in Formaldehyd gelegen. Er spricht leise. Haut und Haar haben die gleiche Farbe, die wässrigen Augen warten geschützt hinter den Gläsern einer randlosen Brille auf den nächsten Lidschlag. Was nur irritiert mich? Als er spricht, ist es klar: Er hat kein Lippenrot. Sein Mund ist ein unscheinbarer Spalt unter der Nase.
„Sie haben ein schönes Zimmer. Ein schönes Zimmer.“
Er öffnet die Tür zu einem langen Korridor und lässt mich vor gehen.
„Am Ende des Flurs.“ Es ist kalt. Die Wände haben Gänsehaut. Ich verstehe erst beim zweiten Blick, dass es nur eine Raufasertapete ist.
Aus einem der Zimmer tönt heftiges Geigenspiel. Wenn mir der Formaldehydmann jetzt ein Messer in den Rücken schiebt, wäre mein letztes Schnaufen gar nicht zu hören. Ich bleibe stehen. 231.
„Darf ich?“ Die quarkigen Hände schließen die Tür auf. Der Mann tritt zur Seite. Ich blicke ins Zimmer. Sehr hoch, sehr weiß, sehr langgezogen.
Das Bett ist riesig. Das (obligatorische) Bild darüber hängt weit rechts. Zu weit rechts, halb über den Bettrand hinaus. Es zeigt einen Fabrikbrand von 1801.
Er reicht mir die Schlüssel. Seine Fingerkuppen berühren meine Handinnenfläche. Er muss schon länger tot sein.
„Das ist ein schönes Zimmer, danke.“ sage ich.
Er nickt.
„Sie werden gut schlafen. Und lang.“
Er geht.
Einen Augenblick lang sehe ich aus wie die Tapete.

Uwe ist Ben trifft Lara

Uwe gibt es auch als Ben. Ben läuft hinter Lara (nein, ich weiß nicht, ob sie so heißt, aber Bens sind mit Laras zusammen.).
„Weißt du, ob wir noch Zwiebeln haben, Ben? Ich hab nicht geguckt. Du, Ben? Ben,Du hast gesagt du guckst.“ Ben schlurft durch die Gemüseabteilung.
„Steinpilze!“ Laras Freude könnte größer nicht sein. Ben ist, sagen wir, teilnahmslos. „Oh, wir machen Steinpilze!“
„Und was dazu?“
„Pasta.“
„Dann können wir doch auch die Champignons nehmen.“
„Das kann man doch nicht vergleichen!“
„Den Preis auch nicht.“
„Ja, aber das sind ja auch STEINpilze, Ben. Weißt du wie selten die sind?“
„Von mir aus könnten das Gottpilze sein.“
Ich stiere auf die Kiste mit den Kapstachelbeeren. Meine Ohren richten sich auf.
„Ben!“
„Ja, was? Ich wollte essen, keine Wertanlage machen.“
Lara schnauft und grapscht nach einer Papiertüte. Bebende Nasenflügel. Der Dutt vibriert.
„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich diesen Edelkack nicht brauche.“
Lara füllt, nein pfeffert, braune Champignons in die Papiertüte.
„Ich ….“
„Weißt du was, Ben? Deine Armut kotzt mich an!“
Alle im Gemüseumfeld erstarren. Eine Mischung aus Verwirrung und Beschämung lässt die Blicke Schutz suchen unter Kohlrabigrün und zwischen Süßkartoffeln.
Ben dreht sich um, springt leichtfüßig über die Eingangssperre und hinterlässt ein paar Ausdrücke im luftleeren Raum, die ich nicht wiederholen möchte.

An der Kasse sitzt diesmal Herr H. Er scannt konzentriert, wirkt aber freundlich dabei.
Er trägt eine Gandhi-Brille und sieht auch ansonsten so aus. Vielleicht sollte man ihn in die Gemüseabteilung versetzen. Ich frage mich, ob Lara doch noch die Steinpilze genommen hat.
Vor dem Supermarkt steht ein bärtiger Hüne mit Zigarette und sagt „Super! Wow super! Das auch? Echt super!“ in sein Handy. Dann wird sein Gesicht ganz weich. „Danke, Mama!“

Warum stand eigentlich „Kapstachelbeeren“ auf dem Schild und nicht „Physalis“, frage ich mich beim Weggehen.

Po und Contra

„Pardon!“
Der Mann in der Kassenschlange hinter mir (2 Dosen Ravioli, 1 Packung Pinienkerne, 3 Tafeln Ritter Sport Alpenmilch) zwängt sich an mir vorbei, um eine leere Einwegplastikflasche in den Müll zu geben. Sein Po streift den meinen. Man könnte sagen: intensiv.
„Verzeihung!“ Es ist ihm sichtlich unangenehm. „Kein Absicht!“
„Kein Problem.“ möchte ich sagen. Sage aber: „Kein Poblem.“
Sofort muss ich kichern. Alles vibriert. Lachflash. Eruptiv. Der Mann hat mein aus Versehen verschlucktes R gar nicht registriert. Herr O., der überaus runde und haarige Kassierer, hingegen schon. Er grinst. Breit. Und vibriert ebenfalls: „Ja, dem Mangel an Platz kann man mit Po und Contra begegnen.“
Ich lache schallend. Es schüttelt mich. Der Mann hinter mir guckt irritiert. Fast genervt. Herr O. bemüht sich, meine Kichererbsen über den Scanner zu ziehen. Er muss drei Mal ansetzen, weil ihm Tränen vor Lachen übers Gesicht kullern.
Ich versuche mich zusammen zu reißen. Angesichts der Tatsache, dass ich „Kichererbsen“ eingekauft habe, will das überhaupt nicht mehr gelingen. Herr O. schnauft glucksend: „Alles reine Povokation.“ Mir wird schwindelig vor Lachen. Gerne würde ich jetzt auf den Boden sinken und mich kugeln. Herr O. hat aufgehört zu scannen. Stattdessen wischt er sich Schweißperlen und Tränen aus dem Gesicht. Die Menschen in der Schlange hinter mir sind ungehalten. Besonders der Mann. Ich möchte gerne etwas sagen, aber ich kann nur lachen. Herr O. stammelt, dass es ihm leid tut und lacht. Scannt nicht. In der Schule wurde ich früher in solchen Momenten vor die Tür geschickt. Herr O. klopft mit der flachen Hand auf das Warenband und unternimmt nicht einmal mehr den Versuch zu kassieren. Der Mann hinter mir sagt nichts. Ein Paar wechselt die Kasse. Irgendwer ätzt: „Geht’s jetzt mal weiter? Das ist ja schon unverschämt!“ Der Mann hinter mir ist aufgebracht. Ich würde gerne etwas sagen. Beschwichtigend. Ich würde auch gerne aufhören zu lachen. Oder Herrn O. zum weiter scannen bewegen. Aber nichts geht mehr.
„Bitte….“ japse ich und möchte Herrn O. an den Zweck seiner Anwesenheit erinnern. Der winkt ab. „Schon gut, schon gut.“
Und ist, wie auf Knopfdruck, plötzlich wieder ernst und zieht meine restlichen Einkäufe übers Band.
Augenblicklich endet mein Lachen. Die Wangen glühend, reiche ich ihm meinen 50 Euro Schein. Ich wage nicht, jemanden anzusehen. Wahrscheinlich kommt gleich der Filialleiter und gibt mir Hausverbot. Herr O. reicht mir das Wechselgeld. Er blickt mich leidenschaftslos an: „Man muss in allem das prositive sehen.“ Der Mann hinter mir ist nicht mehr da.

Trinkgeldmoment

Volltanken.
Zahlen.
Jetzt aber los.
Noch rasch etwas einkaufen. Die Scheiben sind so dermaßen verklebt von den Linden. Ich greife zum Scheibenputzer und beginne zu wischen. Ein einziges Geschmiere. Also ran an den Schwamm. Meine Güte, klebt das. Da muss man richtig schrubbeln. Wie konnte ich überhaupt noch etwas sehen auf den Fahrt?
Verklebte Scheiben fühlen sich beim Reinigen doppelt so groß an. Langsam löst es sich. Ulkig. Mir ist noch nie aufgefallen, dass meine Frontscheibe oben grün abgetönt ist. Käse darf ich nicht vergessen! Und Kaffeefilter hab ich auch nur noch zwei. Irgendwas anderes war noch. Ich komm nicht drauf! Meine Unfähigkeit, Einkaufszettel zu schreiben, rächt sich regelmäßig.
So! Sauber ist’s! Sehr schön!
„Danke sehr! Wusste gar nicht, dass es hier mit Service ist.“, sagt eine freundliche Endfünfzigerin und drückt mir zwei Euro in die Hand. Ich höre Türschlösser klacken. Sie steigt ein. Als die Fahrertür zufällt, verstehe ich endlich, dass mein Auto eine Zapfsäule weiter steht.