Damals. Wie heute. Schlamassel.

Es gibt diese Tage, an denen man weiß, es wird nicht gut gehen. Dass so ein Tag anrollen würde, hätte mir just in dem Moment bewusst sein müssen, als ich den Großzehennagel meiner ersten Kundin mit dem Kopfschneider um seine Überlänge brachte und mir das frisch abgetrennte Stück Nagel in hohem Bogen direkt ins Ohr flog.
Ich weiß nicht, wie ich so etwas mache. Aber ich mache es. Natürlich wollte ich den in der vorderen Vertiefung der Ohrmuschel kitzelnden Hornmond mit einer eleganten Kopfbewegung wieder loswerden – möglichst unauffällig. Doch die schnelle Seitendrehung führte zu einem Knacken im Nacken, mit sofortigem stechenden Schmerz, der eine wahre Kribbelarmee entlang der Wirbel bis hinauf auf den Kopf schickte. Der Versuch, die Blitzpein vor der Kundschaft zu verbergen, scheiterte natürlich daran, dass ich vor Schreck zu viel vom zweiten Nagel wegzippte und nun mit schiefem Kopf auf ein Blutrinnsal starrte.

Ich muss nicht extra erwähnen, dass mir natürlich später noch der Latexhandschuh am Daumen in den Fräser geriet und sich mit dem Geräusch einer gerissenen Filmspule so lang um das Handstück wickelte, bis alle Drehungen brummend zum Erliegen kamen.
Heute weiß ich, dass ich an einem solchen Tag einfach heimgehen sollte. Ein Schild an die Tür machen: Achtung – Gefahrenstelle!

Einfach weggehen. Am besten sofort auf ein Erste-Hilfe-Sofa. Liegen. Abwarten. Keinen Tee trinken (Verbrühungsgefahr!).
Pflichtbewusste Dienstleisterinnen begeben sich nach Vollendung des ersten Schlamassels zielstrebig in den zweiten. Als vernunftbegabte Menschen glauben sie weit über Murphys Gesetz zu stehen.
„Die Wimpern bitte in blauschwarz und die Augenbrauen nur dezent! Sonst sagt mein Mann heute Abend wieder Bert zu mir!“ Ein Kinderspiel. Kosmetikausbildung, erstes Halbjahr. Also bitte!

Die eiserne Regel während des Wimpernfärbens lautet: Niemand spricht! Nicht ich und die Kundin erst recht nicht! Geatmet wird flach, am besten gar nicht. Zu oft hatten sich Quasselstrippen schon Farbe ins Auge geschwätzt, weil die allzu eifrige Unterhaltung allzu eifrige Mimik nach sich zog. An Tagen wie diesen setzen sich eiserne Regeln natürlich wie von selbst außer Kraft. Gerade war alle Farbe aufgetragen, da fragte die Kundin: „Was genau ist eigentlich eine Barrierestörung?“
Wonne für mein Dozentenherz! Ich zog den Stuhl heran und begann, links neben dem Kopf meiner Kundin weilend, loszuschwallern. Ich kann aus einer Barrierestörung einen Fortsetzungsroman machen. Doch mich unterbrach das Piepen des Timers. Behänd sprang ich auf, griff zum sorgsam bereit gelegten, feuchten Wattepad, um die Farbe von den Augenbrauen zu wischen, da fiel mein Blick auf das Fiasko am rechten Auge! Offensichtlich war Farbe ins Auge gekommen und ich hatte es nicht bemerkt. Meine Kundin hatte keine Chance gehabt, sich durch meinen Redeschwall zu kämpfen. Noch offensichtlicher hatte sich das Auge mit Tränen gewehrt. Ein blauschwarzes Rinnsal mäanderte ab dem Augenwinkel auf die Schläfe. Ein Farbbach hatte den kürzesten Weg an den Häubchenrand gewählt, und dort gleich ein paar der hervorblitzenden, blonden Härchen eingefärbt. Ein anderer Farbbach hatte sich bis zum Ohr geschlängelt, am Tragus vorbei, sich bis hinein in den Gehörgang verewigt.

Für einen kurzen Moment wurde mir flau, dann funktionierte ich wie ein Feuerwehrkommando bei Alarm und startete die Wimpernreinigungsmaschinerie. Verzweifelt versuchte ich mit allen möglichen Reinigungsutensilien, die blauschwarzen Tränenlinien zum Verblassen zu zwingen. Vergebens. Zu allem Übel war eine Farbpfütze unter dem Abdeckblättchen entstanden und hatte eine Art Pandabärschattierung auf dem Unterlid hinterlassen. Entmutigt blickte ich auf meine unfreiwillig marmorierte Kundin.

Die Augenbrauen!

Ich hatte sie im Schreck ausgeblendet und die Farbe gar nicht abgenommen! Eilig holte ich das Versäumnis nach. Bert! Noch bertiger als Bert. Black Bert. Sprawling black Bert. Auch an dieser Stelle hätte ich gehen müssen. Hätte ein Schild Katastrophengebiet an die Tür machen und das Erste-Hilfe-Sofa aufsuchen müssen.
Natürlich stellte ich mich meinem Versagen. Stellte mich dem Kundinnenkummer, spendete eine Notfallcamouflage und zog eine Spontanselbstgeißelung ernstlich in Betracht.
Pause.
Atmen.
Ich habe an diesem Tag zwei Mal den Anrufbeantworter falsch abgehört, und selbst ein Mal auf ein falsches Band gesprochen. Ich habe eine Kompresse über das Gesicht eines Kunden gespannt, eine Kante nicht fest genug gehalten und so eine nasse Frotteeklatsche auf seine Wange hinab sausen lassen. Beim Öffnen einer Pulver-Maske bekam ich Pulverstaub in die Nase. Mein unmittelbarer Abwehrnieser verteilte gut ein Viertel der geöffneten Dose im Raum. Vor allem auf mir. Zwei Mal bin ich mit dem Kopf an die Lupenleuchte gestoßen; ein Mal hab ich mir auf die Zunge gebissen. Verlorene Gesprächsfäden konnte ich drei zählen, Versprecher sechs, Verhörer sogar elf.
Natürlich ist auch dieser Tag zu Ende gegangen.

Fassungslos und erleichtert gleichermaßen schloss ich die Tür, verkniff mir das Anbringen des Schleudergefahr! Schildes und setzte mich ins Auto. Schnell einkaufen und dann heim. Vor dem Losfahren griff ich kurz den Kabukipinsel aus meinem Aufhübschtäschchen und kreiste blindlings pudernd über das Gesicht.

Was für ein Tag! Nur nicht unterkriegen lassen. Jeder macht mal Fehler. Ich fühle mich dennoch wie eine Volltrompete! Irgendwie gucken sogar die Leute hier im Supermarkt komisch. Die an der Kasse starrt regelrecht! Ach was. Jetzt nicht noch so einen Blödsinn einbilden.

Zurück im Auto streifte mein Blick das Spiegelbild im Rückspiegel. Aschige Wirbel durchzogen das ganze Gesicht. Im Eifer des Gefechts hatte ich den Kabuki nicht in die Puderdose, sondern in mein Smokey-Eye-Kit getunkt.

Damals. Daheim. Linksrheinisch.

Täglich auf die unterschiedlichsten Menschen zu treffen, gehört zu den herrlichen Seiten meines Berufs.

Allein die Bandbreite meiner früheren Kundschaft ist betörend: von der Gebäudereinigerin über die Metzgersgattin bis zur Richterin – alles war vertreten. Und weil mein Heimatstädtchen so wahnsinnig multikulturell ist, fanden sich nicht nur gebürtige Rheinländer in meinem Kosmetiksalon ein, nein, sogar einige Berliner verirrten sich regelmäßig zu mir. Schwaben. Bayern. Mehrfach sogar ein Herr aus Thüringen.

Die rheinische Kundin ist jedoch in gewisser Weise unübertroffen. Die Ur-Rheinländerin. Die Dialektbombe. Der Archetyp der Rheintochter quasi. Dass ich selbst, obwohl im Rheinland geboren und aufgewachsen, das rheinische Platt nicht beherrsche, sah mir die Stammkundschaft stets großzügig nach.

„Dat arme Ding! Bayrische Mutter! Da machste nix!“

Verständigungsprobleme gab es nie, letztlich auch deshalb, weil ich selten gezwungen war, zum „Dialog“ was anderes beitragen zu müssen, als ein Kopfnicken. Zu den Sternstunden linksrheinischer Kosmetikkommunikation zählt zweifelsohne der Urlaubsbericht von Frau B!

Sie hatte mit ihrem Mann eine Australienreise gemacht und stapfte frisch gebräunt in meinen Salon. „Also nää, nää! Australien is ja wirklisch `n dolles Land! Janz doll! Aber diese Bewohner da, diese Urwohner, also diese Äboritschinies, die sin ja sowas von hässlisch! Also sowas von hässlisch! Furschbar! Die dunn mir so leid! Aber sonst wor et janz doll! Dieses Land! Diese Weite! Mir wore ja ooch am Eierrock. Dat wor jijantisch!“

Hier verließ mich meine ansonsten schnelle Auffassungsgabe, weil meine Synapsen den Bezug zum Ayers Rock nicht so schnell auf die Reihe bekamen.

„Das glaube ich gerne.“ Gedanklich einen eiförmigen Felsen vor Augen, trug ich das Peeling auf. „Jetzt rubbeln Se mir ja die janze Bräune weg! Is jut jetzt! Lassen Se das! Also. Wo wor isch? Ah ja, am Eierrock. Und do hätt minge Mann jesacht, dat sei `n Heilischtum von diese Äboritschinies und dat wir deshalb nit op de Eierrock klettern könnten. Is klar. Isch meine, isch fänd dat och nit juut, wenn de Äboritschinies op de Kölner Dom klettern täten …“

Da musste ich Frau B Recht geben.

Wie ich auch Frau F Recht geben musste, als sie mir erzählte, dass ihr Mann der Meinung sei, sie habe zu viele Falten, worauf sie nur erwidert habe: „Wenn de wat Glattes sehen willst, dann guck dinge Pläät an!“ (Für alle Nichtrheinländer: Pläät ist die Glatze.)

Die neugierigen Rheinländerinnen waren stets den Neuerungen der Kosmetikindustrie gegenüber offen. So erweiterte ich damals mein Angebot um eine Behandlung auf Enzymbasis. Eine Spezialpackung musste dabei 10 bis 15 Minuten mittels Bedampfungsgerät feucht- und warmgehalten werden.

Die Kunde vom brandneuen Faltenglätter hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Auch Frau D rief an und verlangte: „Frau Strang, letzte Woche war minge Fründin bei Ihnen und die hatte diese Behandlung mit dem Fön. Die will isch auch!“

Mit dem Fön? Nach kurzer, cerebraler Irritation meinerseits erfolgte die Terminabsprache ohne Komplikationen.

Gewissheit über die bestens funktionierende Mundpropaganda innerhalb unseres Wohngebietes erlangte ich über die in den darauf folgenden Wochen eintrudelnden Anfragen zur „Fönbehandlung“.

Am schönsten waren die Momente, in denen ich mit einem einzigen Wort die Schatzkiste rheinischen Verniedlichungsdrangs öffnen konnte.

Ich: „Tütchen?“

Kundin: „Für dat Töppschen? Ach wat! Isch nehm dat ins Täschchen, so schwer sind diese Liposömschen ja nit und Jesichtswässerschen nehm isch beim nächsten Mal mit. Tschöschen!“