Miamoment

Wenn das Telefon meines Festnetzanschlusses klingelt, brauche ich einen Moment, um zu verstehen, dass das Klingeln für mich ist. Ich telefoniere nicht gerne. Deshalb ruft mich niemand mehr an. Es sei denn, es ist etwas passiert. Oder es ist Mia. Ich kenne Mia seit 14 Jahren. Ihren Namen nennt sie längst nicht mehr. Sie plappert immer gleich drauf los.

„Sag mal, bist du nicht jetzt auch in den Wechseljahren? Angeklopft haben die doch bestimmt schon? Bei mir wallert es wie im Kochtopf, ich sags dir.“
„Nö, ich bin nicht….“
„Tu mir einen Gefallen, ja? Such dir entweder jetzt sofort einen Mann oder erst wieder, wenn der Spuk rum ist, ja?“
„Also, Mia, ich such gar keinen …“
„Ich hab das schon ein paar Mal im Bekanntenkreis erlebt: dieses finale Aufbäumen so mit 45. Dieser letzte Hauch von Jugendlichkeit, bevor einen der Östrogenschwund ins Tal der weiblichen Bedeutungslosigkeit schleudert. Diese ganzen Angst-Ager ziehen dann los und angeln sich restknackig einen ganz netten Typ. Kaum eingetütet, fallen sie in die Symptomachterbahn der Wechseljahre, machen den armen Mann völlig irre mit Hitzewallungen und Heulanfällen…und wenn er dann alles mit ihnen durchgestanden hat, steht er am Ende vor einem „Apfeltyp“ mit Bauchfett und hängenden Mundwinkeln.“
„Also hör mal, Mia, das kann man doch so nicht…“
„Das will immer niemand hören. Ich weiß. Ja. Aber glaub mir – hier bestätigen nur Ausnahmen die Regel. Also, such dir JETZT einen Mann. Dann habt ihr vielleicht noch zwei / drei schöne Jahre, bevor das Drama richtig los geht. Oder, und das ist sicher die bessere Variante, altere erstmal ordentlich! Wenn Klimakterium und Erdanziehung ihr Werk schlussendlich an dir vollendet haben, DANN such dir einen Mann. So weiß der, was ihn bis zum Lebensende erwartet. Das ist entspannter für alle. Glaub mir. Ich hab es wirklich oft genug gesehen.“

„Mia! Keine quälenden Wechseljahre, kein gesuchter Mann, meine Erdanziehung im Normbereich. Die Wetterlage hier ist völlig, okay, ja?“

Mia atmet zweimal lang, dann einmal kurz in den Hörer.
„Wenn du meinst. Bitte. Ich sage dir, achte auf dein Timing. Du bist bald 46. Ich meine … vielleicht hast du ja Glück und bist kein Apfel, sondern eine Birne. Dann behältst du wenigstens deine Taille – trotz Bindegewebslosigkeit. Aber das wissen wir natürlich erst in zehn Jahren. Naja…die kriegen wir auch rum, was? Du, ich muss jetzt Schluss machen. Ich steh schon vorm Hormonyoga. Da war mir das mit dir grad eingefallen. Tschautschau.“

Ruheplatz

Eine langgezogene Mauer. Altes und frisches Moos auf den grobkörnigen, grauen Steinen. Die Bäume dahinter verraten es: ein Friedhof. Ich bremse und fahre rechts ran. Ein großes Tor und zwei kleine, schmiedeeiserne Türen. Ein Schildchen daran: „Das Füttern von Katzen auf dem Friedhof ist nicht erlaubt. – Die Friedhofsverwaltung“
Ich werde sehr gepflegten Gräbern begegnen, das weiß ich jetzt. In der ersten Reihe rechts sehe ich vier frische Grabhügel. Vier! Nackte Erde bar jeden Blumenschmucks. Kleine, grüne, in den Boden gesteckte Täfelchen weisen aus, wer hier liegt.
Es ist noch warm, obwohl die Sonne schon hinter den Hügeln verschwunden ist. Dem Vogelgezwitscher fehlt die Aufregung des Morgens, aber nicht die Melodie. Ein Holzpfeil zeigt die Richtung zur „Friedwiese“. Ich folge. Nach wenigen Schritten eine grüne Fläche, mit bunten Blumenpunkten. Kleine, weiße, dicke Engel überall. Mittendrin eine Bank. Ich nehme Platz.
Aus den Nadelbäumen plumpsen Tannenzapfen auf den weichen Boden. Nirgends bellt ein Hund, fährt ein Auto, schleicht eine Katze. Ich fühle erst jetzt, wie warm das Holz noch vom Tag ist. Eine halbe Stunde vergeht. Vielleicht etwas mehr.

Wie entscheidet ein Vogel, welcher Ton am Abend sein letzter ist?

Ich stehe auf und gehe weiter. Komme bei Renate vorbei, die jetzt hier wohnt. Karl ist unvergessen, Jutta geliebt, Karin ruht in Gott, Hilde in Frieden und Johannes fehlt uns. Mein Opa sagte immer „So schnell stirbt es sich nicht.“ Dabei ist Leben so filigran.
Ich höre das Quietschen der Friedhofstür. Sie fällt ins Schloss.
Hinter einem Heckenbogen Reihen mit kleinen Urnengräbern. Neben einigen Holzkreuzen liegen verblasste Plastikrosen. Jemand hat „Mach’s gut“ auf einen Stein geschrieben.
Kaum mehr ein Zwitschern übrig. Noch kann ich das Licht Dämmerung nennen. In einem großen Bogen geh ich zurück zum Ausgang. Die kleinen Türen und das Tor sind jetzt fest verschlossen. Abgesperrt.
Das auch noch.
Wahrscheinlich bleib ich beim Klettern mit dem Kleid irgendwo hängen und falle dann wie ein zerrupfter Jutebeutel vornüber auf den Asphalt. Aber alles geht gut. Warum schließt man abends den Friedhof ab? Während ich Moos vom Kleid klopfe taucht eine rot-getigerte Katze auf und betritt geschmeidig, durch die Stäbe des großen Tors, den Friedhof.
Ich muss lächeln und denke „Mahlzeit“. Kein einziger Vogel singt noch.

 

Fried1 Fried2 Fried3

Melodiemoment

„Sie sehen ja, was hier los ist.“
Die Empfangsfee der Praxis macht erst eine Kopfbewegung Richtung Wartezimmer, dann eine Richtung Eingangstür. Eine Menschenschlange mäandert durch das Entree und teilt sich erst kurz vor dem Tresen.
„Nehmen Sie dort vorne Platz. Frau Doktor kommt gleich.“
Sagt sie. Und zwinkert. Zurückzuzwinkern erscheint mir unangebracht.

Es ist eine großzügige, helle Praxis. Von den drei Ärztinnen hält nur eine die Stellung während der Osterferien – und eine gefühlte Armada von Personal. Aus den unzähligen Türen um mich herum kommt allenthalben eine andere Praxisfee inklusive Patientin oder Patient. Rezepte werden gedruckt, Verhaltensregeln aufgesagt, Pflaster nachfixiert, Überweisungsscheine ausgehändigt.

Mein Handy klingelt.
„Ja…ja, das können Sie auch auftragen. Nein, nur abends. Ja. Sonst melden Sie sich noch mal.“

Ich sitze vor Raum 7. Sieben ist meine Lieblingszahl seit der Grundschule. Aus Raum 6 kann ich ein Surren hören. Klingt ein wenig nach Brotschneidemaschine. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was dort gemacht wird. Schräg gegenüber, vor Raum 8, sitzt eine alte Dame. Das Surren in 6 hört auf. Nun summt es. Sehr melodisch. Ich kenn das Lied! Es summt auch nicht aus der 6, sondern vor der 8. Die alte Dame summt leise vor sich hin. In der 6 setzt die Brotschneidemaschine wieder ein. Ich schließe die Augen und versuche das Lied herauszufiltern. Etwas zu verstehen. Unmöglich. Ich werde ganz kribbelig. So eine vertraute Melodie! Ich komm einfach nicht drauf! Das 6er-Surren ebbt ab. Die Dame summt noch immer. Aus der 9 stürmt ein Kind, wenige Schritte dahinter die Erziehungsberechtigte. Das Kind bleibt hüpfend auf meiner Höhe stehen und zerhüpft den Gesang der alten Dame. Ich möchte „Pscht!“ sagen oder „Nu wadde mal kurz…!“, aber ich lasse hüpfen. Dann ist das Kind wieder weg.
„Frau Strang?“
Frau Doktor guckt aus der 6.
„Gehen Sie doch schon mal in die 7.“
„Ja, danke.“
Ich möchte mit dem Fuß aufstampfen und „Ruhe mal eben!“ schreien.
Da steht die alte Dame auf. Die 8 hat sich geöffnet. Gleich ist sie weg. In der 6 springt die Brotschneidemaschine wieder an.
Ich gebe auf und geh in die 7.

Zwanzig Minuten später stehe ich in der Patiententoilette und wasche meine Hände. Hinter mir öffnet sich die Tür und die alte Dame kommt herein. Ruckartig drehe ich den Wasserhahn zu und stehe starr wie ein Zinnsoldat. Die Dame geht tonlos an mir vorbei. Das abperlende Wasser an meinen über dem Waschbecken schwebenden Hände kitzelt.
Gott! Wenn es dich gibt, lass sie summen, bevor sie die Tür schließt! Summensummensummen!
Mein Handy klingelt in die Stille. Ich ziehe es revolverschnell aus der Tasche und drücke den Ton weg.
Die alte Dame ist stehen geblieben. Jetzt dreht sie sich um, sieht mich an und sagt: „Ach schade! Hab ich vorhin immer nachsummen müssen. Kommt mir so bekannt vor, aber ich komme nicht drauf, wie das Stück heißt! Verraten Sie es mir?“
Ich habe Augen wie ein Lemur.
„Ist nur ein Klingelton. Aber erinnert an Mozart.“
„Richtig! An Mozart.“ Sie tippt sich mit einem Finger an die Schläfe.
Dann geht sie in die Kabine und schließt die Tür.
Ob es Gott gibt, weiß ich nun immer noch nicht.

Randmoment

Bevor ich Aachen wieder verlasse, folge ich meinem Impuls und gehe rasch die 600 Meter bis zum Dom. Mit frostroten Fingern betrete ich den Vorraum. Ein Hauch Weihrauch liegt in der Luft. So vertraut. Ich atme tief ein, als ich die Hauptkirche betrete. Das harzig-herbe Aroma legt sich wie eine leicht raue, schützend warme Decke auf jeden filigranen Atemzug.
Wenige Besucher. Nahezu vollendete Stille.
Ich stehe im Halbdunkel und betrachte die goldenen Ornamente über mir. Abendliche Sonnenstrahlen bahnen sich unvermutet ihren Weg durch das Fenster; die Decke beginnt zu glitzern und zu funkeln. Ich schließe kurz die Augen.

„Wenn Sie sich jetzt auf die Zehenspitzen stellen, können Sie direkt über den Rand Ihrer Seele hinaus sehen.“

Überrascht drehe ich mich zur Stimme neben mir. Der Domschweizer ist verwittert und erinnert mich an Kapitän Haddock. Ich weiß nichts zu sagen und lächle. Er drückt großväterlich beide Augen zu zum Gruß und geht weiter. Das Licht am Fenster ebbt ab.

Der Rand meiner Seele. Ich glaubte immer, sie hat gar keinen.

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