„Wir führen ab 42,5.“
Manche Sätze lassen mich sogar mittags um zwei ins Bodenlose stürzen. Normalerweise heißt der Satz: „Es tut mir leid, Ihre Schuhgröße haben wir nicht.“
Oder: „Wir führen nur bis 41.“
Im Fachgeschäft für Damen- und Herrenschuhe für Übergrößen wähnte ich mich endlich angekommen. Dachte ich. Tagelang hatte ich mir vorgestellt eine Art Fuß-El Dorado zu betreten. Ich sah mich Schuh um Schuh anprobieren. Auswahl ohne Ende. Pumps, Stiefel, Sneaker.
Passend, grenzenlos. Taumel. Glühende Kreditkarten. Kaufrausch und Stilettokoma.
Und nun war jäh alles zu Ende.
Ich habe jüngst irgendwo gelesen, dass Deutschlands Füße immer größer werden. 46 für Damen sei keine Ausnahme mehr. Aha. Soso. Nur im Bereich 41,5/42 klafft offensichtlich ein nationales Loch von ungeahntem Ausmaß. Meine Füße scheinen keinen Realwert zu haben. Es gibt sie nicht. Denn es gibt keine Schuhe.
„Manche Modelle haben wir aber auch in 42. Manchmal.“
Ich vermute aus Gnade. Staatlich verordnet. Um die Selbstmordrate bei 42er-Nerds gering zu halten. Ich kann mich nicht einmal damit selbst beruhigen, dass „ich da noch hineinwachsen werde“. Ich bin seit mindestens 25 Jahren in nichts mehr hinein gewachsen – allenfalls heraus. Aber wahrscheinlich sehe ich das einfach alles zu eng. Wahrscheinlich sind passende Schuhe in moderater Auswahl restlos überbewertet. Es könnte auch mein Markenzeichen werden, Badeschlappen zum Kostüm zu tragen. Das Leben kann so einfach sein.
Kassenschlangenmoment
„Minus Vier??? Ey, minus vier ist dein IQ, Digga!“
An der Kasse hinter mir hat sich fünfmal hilflos überproduziertes Testosteron im Alter zwischen ca. 16-20 Jahren versammelt. Grillkohle, Bier und Chips.
„Digga, du redest nur Stuss!“
Die alte Dame vor mir dreht sich um. Blickt mich an. Blickt die Diggas an.
„Digga, du regst mich echt auf, Digga!“
Unwillkürlich muss ich an schlechte Verkäufer denken, die den Kundennamen zwecks persönlicher Bindungsherstellung übermäßig oft betonen. „Dieses Angebot, Frau Digga, ist speziell für Sie entwickelt worden, Frau Digga.“ Ich muss laut lachen. Man blickt kurz zu mir. Sogar die rothaarige Kassenfee mit der türkisfarbenen Modebrille. Blick: streng.
An der Nebenkasse wuselt sich ein kleiner Japaner an der Warteschlange vorbei. „Darf ich vor? Ich hab nur drei Teile.“ Ein mächtiger Bartträger mit Tattoo am Hals bremst ihn triumphierend aus: „Ich hab nur zwei. Und nun?“ Der Japaner zögert. „Sie können mich trotzdem vorbeilassen!“ Spricht es und flitzt vor. Der Bartträger schnauft sprachlos. Ich muss wieder lachen. Versuche es diesmal leise. Hoffnungslos.
„Digga, guck dir den Floh an, Digga! Der machts richtig!“ tönt es rustikal hinter mir, als der Japaner aus dem Supermarkt saust.
Die alte Dame vor mir hat ihre Waren aufs Band gelegt. Den leeren Korb hält sie einen Moment unentschlossen in der sichtbar zittrigen Hand. Dann dreht sie sich um, streckt den Korb an mir vorbei den Jungs entgegen und sagt: „Wären die Herren Digga so nett, das wegzustellen?“
Blicke: höchst perplex.
„Krasse Ansage, ey!“.
Der Korb wird ordentlich weggestellt.
Das Leben in Freitagabendkassenschlangen in der Hoheluftchaussee ist unbezahlbar!