Mein Vater war 56 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Da hatte er bereits einen Herzinfarkt und einen Weltkrieg hinter sich.
Er hat mir nie etwas vorgelesen. Oder mir bei den Hausaufgaben geholfen. Die Hitze in Afrika sei schlimmer gewesen, als die Kälte in Russland. Das hat er erzählt. Kinderspiele kannte er nicht. Er hat mich auf den Friedhof mitgenommen, zum Blumengießen. Oder mit an die Tankstelle und in die Waschstraße. Bis heute mag ich grabumrandete Stiefmütterchen und den Geruch von frisch gezapftem Super.
Bei guten Noten sagte er „Du bist eine Eins.“, und bei schlechten „Man kann nicht mehr tun, als man tun kann.“.
Wirklich interessiert hat ihn beides nicht. Er aß klaglos alle Essensreste, die ich auf meinem Teller ließ. Meine Mutter sagte dann: „So lernt sie es nie!“
Er mochte Hausmannskost. Als er dement wurde nur noch Pfannkuchen. Oft fing er unaufgefordert an zu singen. Selbst im Schwimmbad, wo er jeden Morgen seine Bahnen zog. Kaffee mit Milch, ohne Zucker. Bei jedem Frühstück rutschte sein Daumen in die Butter-Marmeladen-Schicht des Brötchens. Trotz Abschleckens blieben immer rote Tupfen am Rand des Politikteils der Tageszeitung.
Wir haben nie viel miteinander geredet. Warum-Fragen konnte er nicht beantworten. Andere hatte ich nicht. Meistens kam er spät nach Hause, wenn ich längst im Bett war. Dann hörte ich die schweren, bemüht leisen Schritte auf der ächzenden Holztreppe. Ich stellte mich schlafend und wartete auf das sachte Öffnen meiner Tür. Nur einen Spalt, damit mich der Lichtkegel nicht erreichte. Drei Atemzüge lang ruhte sein Blick auf dem schlafenden Kind. Es blieb unsere innigste Form der Berührung.
Wunderschön melancholisch.
Du berührst mich.