Reisemoment mit Frau M.

„Einen Toten anziehen? Machen Sie Witze? Das ist ja eine fürchterliche Vorstellung! Man kann doch keinen toten Körper wieder anziehen.“

„Können kann man schon, aber wenn Ihnen die Vorstellung widerstrebt, hüllen wir Ihre Tante auch gern in ein Tuch.“

„Ja. Das ist gut. Das ist eine gute Vorstellung. Tote anziehen … wer macht denn sowas?“

Frau M. kommt noch ein paar Mal in unserem Gespräch auf diesen Punkt zurück. Schüttelt sich. Schüttelt den Kopf. Erzählt von einer Marokko-Reise mit ihrem Mann und dass sie auf dieser Reise Canettis „Die Stimmen von Marrakesch“ gelesen hat. Weil es naheliegend ist, die Literatur an die Reise anzupassen.

„Kennen Sie das Buch?“

„Nein.“

„Waren Sie schon in Marrakesch?“

„Nein.“

„Wenn Sie dort sind, lesen Sie das Buch! Wie kommen wir denn überhaupt jetzt darauf?“

„Wegen der Rede. Sie sagten APROPOS REDE …  und dann waren wir in Marokko.“

„Ach ja, Genau. Eigentlich führt das jetzt zu weit. Haben Sie Strindberg gelesen?“

„Ja.“

„In Schweden?“

„Nein …ich…hab auch Ibsen nicht in Norwegen gelesen.“

„Hemingway?“

„Nein.“

„Haben Sie Mayröcker gelesen? In Wien vielleicht?“

„Ja, das hab ich sogar. Und Ilse Aichinger.“

„Wie sind wir denn jetzt darauf gekommen?“

„Der Rede wegen. Über die Marokko-Reise.“

„Also, dass Sie „Die Stimmen von Marrakesch“ nicht gelesen haben…naja, wenn Sie nicht dort waren, nun gut. Kann ich meine Tante noch einmal sehen?“

„Ja.“

„Bücher darf man doch mit in den Sarg legen, oder?“

„Natürlich.“

„Goethes letzte Reise wäre vielleicht passend. Obwohl meine Tante nicht viel mit Goethe am Hut hatte. Aber es sollte schon passen, denken Sie nicht? Was würden Sie denn dazu legen? Nein, anders, was soll denn mal in Ihrem Sarg liegen – außer Ihnen natürlich.“

„Natürlich! Ich hab noch nicht … ich … am liebsten Gedichte von Mascha Kaléko.“

„Kaléko?“

„Ja.“

„Gut. Gute Wahl. „

Frau M. schweigt eine Weile, blickt auf die Urnen im Regal, nippt am Tee. Sieht mich an.

„Ich glaube ich bringe meiner Tante doch … eins ihrer Nachthemden. Und die Nachtsocken. Gelesen hat sie am liebsten im Bett.“

„Das würde ihr gefallen.“

„Ja, ein Nachthemd und die Lagerlöf …“

„Nils Holgerssons …?“

„….wunderbare Reise!“

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