Fünfhundert Gramm

Gleich muss einer ausweichen. Der auf dem allzu schmalen Trottoir auf mich zukommende Mann trägt Einkaufstaschen in beiden Händen, ich nur in der rechten. Seine Statur ist breitbeinig, die Füße nach außen gestellt und im wiegenden Gang offenbart sich der Versuch stechende Hüftschmerzen auszubalancieren. Selbst hinter den fast schwarzen Sonnenbrillengläsern verraten sich die zornigen Augen. Er schnauft. Ich drehe mich zur Seite, er im selben Augenblick. Wie zwei Feinmechanikteilchen gleiten wir aneinander vorbei. Das Schnaufen wird breit. Ein Lächeln?
 
Am Eingang zum Marktplatz stehen Fahrräder. Werden an- oder gerade abgekettet. Körbe vorne. Körbe hinten. Satteltaschen. Eine verschnürte Puppe. Oh.
Zwei Kinder sitzen in einem Lastenfahrrad, eingebaut zwischen Spargel und Rhabarberstangen. Keines weint, das mag am Samstag oder am versprochenen Eis liegen. Die Schlange am Spargelstand ist endlos. Der Wind weht Fischfrikadellenduft zwischen Kräutertöpfe, am Käsestand wird gefachsimpelt. Beim Kartoffelmann tut das niemand. Kartoffeln sind nicht so intellektuell wie geronnene Milch, denke ich. Was haben wir früher eigentlich ohne Burrata gemacht? Beim türkischen Händler steht ein Petersilienwald – ich bin glücklich.
 
Bei den Erdbeeren treffe ich Frau U.
Sie nimmt ein 2kg-Körbchen, ich schaue nach den kleinen Schalen. „Er hätte mich jetzt gefragt, wer das alles essen soll“, sagt sie.
Letzten Sommer starb ihr Mann. Eine plötzliche Magenblutung. Massiv. Bei unserem ersten Gespräch legte sie langsam, wenn Tränen aufkamen, den Kopf in den Nacken. Stierte an die Decke bis alles Wasser nach innen abgeflossen war und sprach erst dann weiter.
„Dabei essen sich Erdbeeren ganz von selbst, sind plötzlich weg“, setzt sie nach, „das kann man vom Kummer ja nicht behaupten“.
 
„Vom Kummer nehmen Sie besser nur 500 Gramm“, sage ich und Frau U. lacht und sagt: „Besser ist das. Ich hab eh noch welchen daheim!“ Ihr Mann wäre drei Tage nach seinem Tod 50 geworden. 51 wird er auch nicht mehr.
Auch ich nehme 500 Gramm, allerdings Erdbeeren. Noch ein paar herzliche Worte und Nicken. Frau U. wendet sich zum Steinofenbrot, ich gen Marktseitenausgang.
 
Im Vorbeigehen schnappe ich auf, wie jemand ins Telefon zetert „ … dann gib dir halt EINMAL Mühe, das kann doch nicht so schwer sein!“
 
500 Gramm, denke ich wieder. Vielleicht ginge es mit 500 Gramm.
 

10 Antworten auf „Fünfhundert Gramm“

  1. Lustige Marktbeobachtungen haben mich erfreut, liebe Bettina. Ja, der Kummer wird mit de Jahren kleiner, aber immer kommt neuer. Erst stirbt der Bruder (64), dann die Hündin (8), beide Krebs. So ist es eben, und der normale Alltag geht immer weiter. Danke für Deine oft so ermunternden Zeilen und schöne Pfingsten für alle.

  2. Liebe Bettina, es ist merkwürdig. Denn am Tag nachdem meine Mutter gestorben, es war an einem strahlenden 3. Juni im Schwarzwald, ging ich auch Erdbeeren kaufen auf dem Wochenmarkt in Gengenbach. Die Früchte sahen prächtig aus, wie gemalt. Ein alter Mann hatte dennoch was zu meckern und hielt die Bäuerin mit seinem dummen Gemäkel auf. Da sagte ich zu ihm: „Wissen Sie was? Meine Mutter liebte Erdbeeren. Sie wird nie wieder welche essen. Sie ist nämlich seit gestern tot. Kaufen Sie die jetzt oder nicht?“ Die Bäuerin schaute uns an und sagte nur: „Mich frierst grad!“ Und ich danke dir für deine Geschichte, wie immer so sensibel und klug wie nur ein mitfühlendes Wesen es ausdrücken kann. Frohe Pfingsten und liebe Grüße dein Stephan

  3. Liebe Bettina, danke für die feine Geschichte. Ich finde, Kartoffeln sollte man intellektuell nicht unterschätzen.😉

  4. Liebe Bettina,
    du hast- wie immer, mein Herz berührt! ❤️
    Wir sollten uns mehr an den kleinen und schönen Dingen erfreuen.
    Ich werde heute Erdbeeren kaufen!
    Liebe Grüße,
    Martina

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