Nahmoment

Sie hat ihm dem Rücken zugewandt. Steht dicht, aber nicht angelehnt. Ihr sehr kurzes, dachsgraues Haar zeigt in sanften Wellen, dass es lockig wäre, hätte es mehr als diese zwei Zentimeter Länge. Kleine Ohren, robust und fleischig wie die ganze Frau. Ihre Brillengläser sind kaum größer als die Augen, randlos oval. Hände, die Papier mit Bastelscheren akkurat zerteilen können, die sommers in Beeren greifen, die auf Kinderköpfen Strähnen zerzausen, die mit Bleistift Listen führen. Ein Daumennagel ist verkümmert. Der Ehering ein dünner Platinstreif.

ER ist eineinhalb Köpfe größer als sie. Weißes Haar mit Scheitel. Die tiefen Zornesfalten bleiben selbst im Schlaf. Seine Hände ruhen in den Anoraktaschen, manchmal gleicht er mit den Knien die Zugbewegungen aus. Er schaut auf die Bildschirme, er schaut aus dem Fenster, er schaut auf den Obdachlosen, der uns erzählt, warum er auf der Straße lebt. Er gibt ihm keinen Euro. Diesmal nicht. Er legt seiner Frau die Hand auf den Arm. Sie zieht eine Münze aus der Tasche, aber da ist der Obdachlose schon weg.

Ich stehe gegenüber und betrachte das gewachsene Beieinander. So zu stehen, denk ich. Eins aus zwei Körpern ungekuschelt nah. Die Liebe im Nacken. Die Türen gehen auf, ich steige aus. Zwei Stationen zu früh. In mein Nichts.

Herbst ist

Herbst ist
 
ein ausgesprochnes Seufzen.
 Das Kupfer klettert in die Kronen,
 an beigen Wegen welkt der Mohn.
 Und als hätten wir Zeit,
 verlangsamen wir
 den Fluss der Fragen,
 schieben raschelnd die Füße
 durch die lautlos gefallenen Sätze.
 Bunt und bang bleibt das Herz,
 sonst nichts.

(c)2021

Bleib doch bei mir bis 3 nach 10

(M)ein Lied und seine Geschichte.

Angefangen hat alles mit einem Missverständnis. Ich wurde gefragt, ob ich zu einer Melodie einen Liedtext schreiben könnte. Völliges Neuland für mich, aber ich wagte den Versuch. Um dann herauszufinden, dass ein Text in englischer Sprache gewünscht gewesen war. Hoppala. So blieb einerseits mein Text zurück und anderswo eine Melodie (die hoffentlich inzwischen english betextet wurde ? )

Und dann kam natürlich (natürlich? Natürlich!) Kornelius Wilkens ins Spiel; er ersann Töne und Klänge – und plötzlich war da (s)ein Lied. „Frühe“ unser Titel.

Hier der Text im Original:

Nebel schläft vor meinen Fenstern 
Nur der Kaffee blinzelt keck 
selbst dem Dunkel fehlt dein Atmen 
Meine Hand weiß: du bist weg.

Kinoküsse , Szenenwechsel. 
Du siehst nie ein Ende an. 
Dein Gesicht scheut meinen Morgen. 
Tage-, manchmal wochenlang.

Wann vergisst du deine Schuhe? 
Wann verweilst du aus Versehn? 
Alles was ich sagen wollte: 
Bleib doch noch bis drei nach zehn.

Schwarz mit Zucker. Deine Tasse 
wartet tonlos im Regal. 
Jede Wimper auf den Kissen 
ist Beweis: du warst real.

Nirgends Schwüre. Dafür Strümpfe. 
Manchmal übersiehst du dich. 
Lässt statt Worten Glanz im Zimmer, 
wie einen Gedankenstrich.

Wann vergisst du deine Schuhe? 
Wann verweilst du aus Versehn? 
Alles, was ich sagen wollte: 
Bleib doch noch bis drei nach zehn.
Wann vergisst du deine Schuhe? 
Wann verweilst du aus Versehn? 
Alles was ich sagen wollte: 
Bleib doch noch bis drei nach zehn.

„Frühe“ ©2019 


Und es purzelte eher zufällig in die Ohren eines anderen Freundes, des Wiener Musikers Reinhard Malicek, der wunderbare Lieder im Wiener Dialekt schreibt und singt. Der mich fragte, ob er es ins Wienerische holen darf. Er durfte. Und nun ist da (m)ein Lied. Danke an ihn und Martin Rauhofer für die schöne, schöne Umsetzung.

Hier ist es. Viel Freude beim Hören und hinterlasst gern ein LIKE unterm Song, wenn er euch gefällt.

https://www.youtube.com/watch?v=wAJcjAxEkPs

Deutsche Ursprungsversion:

Musik von Kornelius Wilkens, Berlin

Text von Bettina Strang, Hamburg

Cover im Wiener Dialekt:

Reinhard Malicek und Martin Rauhofer, Wien

Verlust- und Liebemoment

Vielleicht war es doch nur Strömis Tod. Das Ende eines Tiers, das mir monatelang Teppiche voll gepinkelt hatte; das nach jedem Aufwachen dement jaulte, nicht mehr allein bleiben konnte und doch sein musste, weil ich nun einmal zu arbeiten hatte. Strömi, der sein Futter aus dem Napf durch die Wohnung trug, überall verteilte und dann vor dem Fressen vergaß, wo er es abgelegt hatte. Es war alles so anstrengend. Strömi war schließlich nicht mein Hund gewesen. Mutterns Hund. Die nun tot war und vermisst von ihm und unauffindbar, egal wo er nach ihr suchte.

Wie hab ich es gehasst, nichts mehr ohne ihn tun zu können. Wie hab ich ihn geliebt mit seinem schnaufenden Atem an meinem Ohr, wenn er nachts kurz dicht neben meinem Kopf schlafen musste, bevor er sich ans Fußende trollte.Ca. 4244x Gassigehen.3183x Füttern. 1591x Pfotenreinigen. 450x Fellbürsten. Ungezählte Streicheleinheiten.Bestimmt 1642,5x habe ich Tabletten in Leberwurst gerollt und verabreicht. Vielleicht 4x musste ich Zecken entfernen. Dafür bestimmt 530x Analtumore reinigen. 415x Augentropfen in Lidfalten träufeln. Kurz gesagt: Seit dem 01.11.2007 hatte ich eine Menge Hund im Lebensrucksack. Begleitumstand einer Lebenszäsur. Todeszäsur?

Was man da so alles herausbekommt übers eigene Herz. Natürlich gab‘s auch vorher schon Hund in meinem Leben. Teilzeithunde. Aber es gibt keine Teilzeitvertrautheit. Vertraut ist man ganz oder gar nicht. Ich werde nie wieder in Nassfutter treten. Nassfutter auf nackter Fußsohle ist etwas Unschönes. Nassfutter auf (besser gesagt in) angerauter Hauspuschenledersohle ist tendenziell lästig. Vom Nassfutter als Teppichtretmine ganz zu schweigen. Trockenfutter hat freilich auch seine Tücken. Aber immerhin lässt es sich wegsaugen. Nie wieder 892 Haare auf dem dunklen Blazer, die jeder Fusselrolle trotzen. Nie wieder Haare auf dem Teppich, an der Hose, im Auto, im Käsekuchen und auf der Zunge.

Und dann ist da noch Flatulenzia Canoidea (der gemeine Hundefurz). Mit dem sollte man rechnen, wenn man Hund im Lebensraum hat, wobei man in der Regel nicht damit rechnet. Auch eine Gnade. Der letzte Gruß dieser Art entfleuchte in der Nacht vor Strömis Tod. Ich hab meinen Hund hochgehoben und die Treppen hinunter getragen, er konnte nicht mehr alleine hinab. In Filmen kommt hier anrührige Musik ins Spiel, dramatische akustische Untermalung des letzten Ganges zum Lieblingsbaum. In meinem Leben war die Untermalung olfaktorisch, ein Gemisch aus Methan und Schwefelwasserstoff, das sich unweigerlich seinen Weg in meine Lungenbläschen bahnte.

Wenn ich ehrlich bin ist für mich die Lunge das Organ der tiefsten Einverleibung, der größten Intimität. Was juckt mich jemand anderes Hautschuppe auf meinem Butterbrot oder das Kopfhaar des Pizzabäckers in der Minestrone? Lächerlich! Das zermalme ich bis nichts übrig ist und der Weg in meinen Körper ist lang und voller Salzsäure! Aber mit drei Personen im Drei-Personen-Lift zu stehen, starr wie Zinnsoldaten, oberflächenberührungslos, alle an die Decke atmend in strikter Augenausweicherei – grauenhaft! Ich kann ihn sehen, ich kann ihn schmecken, diesen fremden Atem, wie er oben von der Liftdecke auf uns herab rieselt und bei meinem nächsten Atemzug tief die Alveolen flutet, dieser fremde Atem voll fremder Lebensmoleküle aus der Tiefe eines anderen Körpers. Bah! Auch deshalb nehme ich lieber die Treppe. Mit jemandem Luft ohne Scheu zu teilen zeigt den Grad meiner Zuneigung. Mein Hund hätte mir ALLES entgegenatmen dürfen (und ganz ehrlich: Oh je, das hat er auch.).

Dinge, die zum letzten Mal geschehen, bekommen etwas bedeutungsvolles, auch wenn man sie unzählige Male zuvor erlebt, gesehen, mitgemacht, erfahren hat. Und vieles wird gegenstandslos. Schlechter Geruch, spontane Blasenentleerung im Treppenhaus, unaufhörliches Jammern, Wassernapf umwerfen und Küchenbodenfluten – alles egal. Du weißt, es wird nie wieder sein. Ich dachte: Atme weiter! Krümle weiter dein Futter durch die Bude! Bestimme meinen Lebenstakt. Sag mir mit „Winsel“, wann ich aufzustehen habe, sag mir mit „Wuff“, wann ich ins Bett zu gehen habe. Scheuch mich alle zwei Stunden an deinen Lieblingsbaum, weil du es länger nicht mehr aushalten kannst. Verströme Ungerüche. Hinterlasse überall deine Haare. Zwing mich zuhause zu bleiben, weil du nicht mehr allein sein kannst. Alles, alles, alles will ich weiterhin machen, obwohl ich es so oft so dermaßen müde war, wenn du nur warm bleibst und sich dein knochiger Brustkorb weiter hebt und senkt. Es lebe die Irrationalität des Abschiedsschmerzes. Ich hab mich dann dafür entschieden einfach zu heulen. Unabänderliches muss ich wegheulen. Den letzten Waldspaziergang habe ich ebenso durchheult, wie die letzte wache Nacht seines Zitterns und Wimmerns und Kotzens und Pinkelns. Ich hab das Wartezimmer zu- und dann die Tierärztin angeheult. Dann hab ich kurz nicht geheult. Während Strömi eingeschläfert wurde stülpte sich eine gnädige Glocke völliger Fühllosigkeit über mich. Ich war ganz ruhig. Ganz nah mit ihm. Bis er ganz ruhig war. Zuende geatmet hatte.

Den Tag über habe ich weitergeheult und den nächsten. Auch am dritten Tag konnte ich es nicht lassen. Dann, ab dem vierten leerten sich allmählich die Salzwasserbestände.Stattdessen lauter so Bleibommels am Herz.Jetzt lebe ich nassfutterkrümelfrei. Napffrei, gassifrei, haarfrei. methanfrei, tablettenfrei, windelfrei.Ich brauche plötzlich wieder einen Wecker. Und sonntags kann ich schlafen, einfach schlafen. Strömi hat meine Familie 17 Jahre, sechs Monate und 27 Tage lang begleitet. So lang hält nicht mal die deutsche Durchschnittsehe (die kommt bloß auf 14 Jahre). 1061 Tage währte unser letztes, gemeinsames Stück Weg.

Vielleicht war es doch nur Strömis Tod. Das Ende dieses Tiers, weshalb ich mir wünsche, dass mir nichts oder jemand wirklich (wirklich!) etwas bedeutet. Ein Wunsch, der bisher nicht in Erfüllung gegangen ist.

(Strömi starb vor über 10 Jahren)

Tänzelmoment

Der Blick auf die Uhr ist eindeutig: ich habe alles noch rechtzeitig geschafft, und diesmal schaffe ich es sogar noch vorher aufs Klo. Das habe ich bisher nämlich nicht jedes Mal geschafft. Falls sich je jemand unter den Trauergästen gewundert hat, warum die Bestatterin die Urne sanft tänzelnden Schrittes zum Grab trägt – die Lösung ist nicht Anmut, sondern Aushalten.

Noch habe ich nicht herausgefunden, was ich an Trauerfeier-Tagen morgens frühstücken kann. Frühstücke ich nichts, wird mir flau und ich kann weder Holzsäulen noch Sandschalen tragen. Frühstücke ich zu viel, kann ich es auch nicht. Frühstücke ich zu obstreich, gurgelt mein Bauch jedes Requiem klein. Zudem ist Obst wasserreich. In Kombination mit dem wirklich unvermeidlichen Kaffee entsetzlich harntreibend. Frühstücke ich quarkreich, ist es auch nicht anders. Brot hab ich nie im Haus. Haferflocken machen mich nicht lang genug satt, es sei denn, ich esse so viel davon, dass ich mich nicht mehr rühren kann.

Heute hatte ich gebratene Zucchini und Avocado. Ja, zum Frühstück. Kein Bauchgurgeln, nicht wassertreibend. Es schien okay. Nur der Humpen Kaffee wollte irgendwann … uff. Diesmal hatte ich es ja geschafft. Vorher.

Blick auf die Uhr. Hurra. Ich öffne die Tür zur Friedhofskapellentoilette und stoße direkt auf eine Person, die sich just vom Waschbecken weg und Richtung Tür gedreht hat. „Huch“ sagt sie. Als sei das eine typisch norddeutsche Begrüßung, antworte ich ebenfalls mit „Huch“.

„Ich muss noch trockenwedeln“ sagt sie weiter. Und wedelt. Wedeltropfen fliegen mir entgegen auf die Kleidung, auf die Maske, auf die Stirn. „Huch“ sage ich ins Tröpfchenmeer.

Möchte mich gern an der Dame vorbeischlängeln, weil ich doch – noch zumindest – so gut in der Zeit bin und es heute auch keine weitere Minute ausdurcheinhalten könnte. Aber die Dame steht exakt und unumschlängelbar zwischen mir und den zwei Toilettenkabinen.

„Ach, ist wer gestorben?“ fragt die Frau, meine komplett schwarze Robe musternd (ich trage nicht selbstverständlich schwarz auf Trauerfeiern) und weiter: „Wer denn? Ein Promi? Wieder ein Promi? Sterben ja viele zurzeit.“

„Promis?“ frage ich tänzelnd.

„Ja“ wedelt sie zurück.

„Verzeihen Sie … wenn ich mal kurz dürfte … also vorb…“

Die Dame geht zur Seite, ich husche gen Klotür, da fängt mich ihr Stimmlasso gezielt ein: „Jemand aus Ihrer Familie? Ach nee. Sie haben ja ne Namensplakette. Sie machen das professionell hier, ja? Haben Sie jetzt mehr, mit den ganzen verrückten Reiserückkehrern? Ich sehe die ja … oh. Hab noch Grün am Daumen.“

Sie dreht sich zurück zum Waschbecken und pumpt Seife auf den Daumennagel. Ein scheinbar günstiger Augenblick, doch dummerweise blicke ich noch einmal (jetzt nervös) auf die Uhr.

„Gleich Zwölfe, oder? Sagen Sie mal, kann man da eigentlich mit rein? Oder ist das privat? Oder ist da auch Corona?“

„Da ist auch Corona“ sage ich, denke „Huch“, weil der Satz so schön missverständlich sein könnte, wüssten die Dame und ich nicht beide, wie wir das gemeint haben. Aber wir wissen das.

„Ich muss dann mal …“ sage ich und auch das ist ein idiotischer Satz vor einer Klotür, aber vielleicht exakt die Sprache, die die Frau und ich miteinander brauchen.

„Ich auch“ gibt sie zurück, lakonisch und seifensicher und greift nach einer großen, grünen Plastiktasche, die am Boden steht und aus der Pflanzen, Handtücher und eine Wasserflaschenhals ragen.

Ich spüre viele Schweißperlen auf zu vielen Hautzonen, höre Fahrzeuge ankommen und Autotürverriegelungen klacken. Dann klackt die Toilettenaußentür und ich blicke abermals auf die Uhr.

Die Urne, später, trug ich in tiefer Ruhe.

(08/2020)