Die Liebe der Anderen

Das schwarze T-Shirt des Body Builders liegt körpernah an. Er ist braungebrannt. Über dem T-Shirt trägt er eine blassblau-graue Wildlederjacke mit blassblau-grauem Lammfellfutter. Sein Gesicht – ein mäanderndes Furchenrelief. In den Augen eine unvermutete Traurigkeit. Vielleicht rasiert er normalerweise den Schädel, zum Zeitpunkt unserer Begegnung innerhalb der FAST LANE am Flughafen, ist sein Haar wenige Milimeter lang und liegt wie ein feines, silbriges Frosting auf dem Kopf. In der Mitte des Hinterkopfs zieht sich eine lange Narbe entlang. Fast von einen Ohr zum anderen. Als sich der Mann zur Seite dreht, um sein Handgepäck auf das Rollband zu packen, sehe ich, dass auch die Seiten des Kopfes lange Narbeneinkerbungen haben. Hat man ihm mal die Schädeldecke abgenommen? Sein T-Shirt rutscht hoch, als er die Jacke auszieht, und gibt eine makellos glatte und unglaublich weich aussehende Rückenhaut preis. Mit Fell hätte er etwas von einem Gorilla. Einem sehr einsamen Gorilla.

Ich höre ein Seufzen vom Rollband rechts von uns. Dort legt gerade eine sehr dünne Frau ihre Tasche in die Plastikkiste. Die streichholzdürren Beine stecken in schwarzen Wollleggins, die bei den Knöcheln in etwas älteren, angewetzen, rosafarbenen UGG-Boots münden. Sie dreht gerade den Kopf wieder weg, als ich hinüberblicke. Oha. Ihr Anorak ist tortengussrosa, mit einer breiten, weißen Plüschfellkrempe an der Kapuze. Das Haar hat eigentümlich ondulierte Locken. Von hinten sieht sie aus wie ein zu groß geratenes Kind, das sich Muttis Zweitfrisur zum Spielen auf den Kopf gezogen hat. Unter dem Anorak baumeln rosa Fransen hervor. Sie zieht ihn aus, ich erwarte ein Quietschgeräusch, aber es raschelt nur zart die Synthetik. Ich weiß nicht, wie klein die Kleidung sein muss, um an diesem Körper körpernah zu sitzen. Sie dreht sich um. Ihr Gesicht ist nicht unbedingt zu alt, aber viel zu müde für all den Plüsch und all die Fransen. Der Bodybuilder und sie treten zeitgleich vor den Bodyscanner. Mit versierter Geste bedeutet er ihr, dass sie den Vortritt hat. Leider stehe ich hinter ihm und kann sein Gesicht nicht sehen. Beide blicken einander an. Fünf Sekunden zu lang, um es bedeutungslos sein zu lassen. Sie nickt schüchtern. Es seufzt aus den Tiefen der herabgezogenen Marionettenfalten.

Der Securitymann winkt sie durch. Es bleibt still. Er winkt den Bodybuilder durch. Es piept. Der wird zur Seite gebeten. Als er die Arme anhebt, damit er abgetastet werden kann, spannt sich das T-Shirt derart, als könne es jeden Moment reißen. Die Plüschfrau und ich halten beide die Luft an. Sie konzentriert sich auf seinen Po. Für einen kurzen Moment beleben sich ihre schlaffen Wangen. Ich entdecke, auf der anderen Seite des Scanners wartend, eine weitere Narbenkerbe breit über seine Stirn gezogen. Ja. Die Schädeldecke muss einfach mal ab gewesen sein. Oder er hat als Kind zu  gern mit dem Dosenöffner gespielt.

Später saßen beide im gleichen Flieger wie ich. Aber ich glaube, es gab kein Happy End.

Mein Koffer in Berlin (2011) – Teil 1

Fortbildung. Oslo. Es ist November. Am Flughafen in Berlin treffe ich C, Visagist und mir bisher unbekannter Kollege. Ich bin etwas aufgeregt. Oslo! Ja, nur das Wochenende. Ja, außerhalb des Hotels werde ich kaum etwas zu sehen bekommen. Aber: OSLO!
Mein Trolley wird gewogen. 6,8 Kilo.
„Kein Handgepäck mehr.“
Ich nicke. Dabei hatte ich mich so bemüht. Der Koffer verschwindet schonungslos im Gepäckschlund am Ende des Rollbands. Winterkleidung wiegt eben. C stellt seinen Trolley auf das Band. 17,2 Kilo. Fasziniert starre ich auf das Gepäckstück, das keinen Zentimeter größer als meines ist. 17,2 Kilo? Was in aller Welt transportiert er?
Ich frage nichts.
Der Flug verläuft unspektakulär. Der Abendhimmel über den Wolken verleiht Cs dunklem Teint einen rosaroten Ton. Der Pilot informiert uns über den Landeanflug.

„Gottlob ist das Wetter hier schön, C!“
„Bettina, wir sind über den Wolken. Da ist das Wetter immer schön.“
Ich schweige betreten.

Das Flugzeug sinkt tiefer und tiefer. Lichter am Boden werden erkennbar. Regen peitscht gegen die Scheiben.
„Verdammt! Regen!“ Cs Blick hat eine panische Note. „Regen! Ich habe keinen Schirm dabei! Meine Haare!“
Meine Mundwinkel zucken unwillkürlich nach oben. C, obwohl in Berlin lebend, trägt hanseatische Herbstuniform: dunkel und gedeckt. In meinem knallroten Mantel und mit meinem orangen Trolley hatte ich auf dem Flughafen neben ihm wie ein Knallbonbon ausgesehen. Seine feine Haut ist besser gepudert als meine. Auf dem Jochbein funkelt zart ein Hauch Goldstaub.
„Meine Haare werden sofort kraus! Unmöglich!“ Er sieht erklärend zu mir herüber. Ich lächle.
„Das kriegen wir schon hin, C!“
20 Minuten warten wir am Kofferband. Alles kommt. Nur mein Koffer nicht.

„I’m sorry, your baggage is still in Berlin Tegel.“ Die im Lächeln ausgebildete Dame am Schalter für verlorenes Gepäck bleibt ungerührt.  C summt Ich hab noch einen Koffer in Berlin.
Mir ist flau. Alles ist in diesem Koffer! Alles! Ich hatte doch gedacht, er geht als Handgepäck durch. Brille…frische Kontaktlinsen…Schminke…Wäsche…ALLES!
„Ich habe, was du brauchst.“ C klopft mir beruhigend auf die Schulter. Er will zum Schirmshop. „Morgen sind die Sachen ja wieder da.“

Unsere Zimmer liegen nebeneinander. 27.Stock. C klopft an und ruft: „Ich hab was zum Abschminken dabei.“ An der Rezeption hatte ich ein Notfall-Tütchen erhalten: Zahnbürste, Zahnpasta, Wattepads, Wattestäbchen und ein Nähset. Ein Nähset. Es beruhigt mich sehr, ein Nähset bei mir zu wissen.
Ich öffne. C, nunmehr mit mit gekräuseltem Haar, reicht mir eine Handvoll Pröbchen. Reinigungsmilch und diverse Cremes verschiedener Marken.
„Holst du mich zum Frühstück ab?“
Ich nicke.

Der nächste Morgen. Um 07:00 klopfe ich bei C. Er öffnet und verschwindet sofort wieder im Bad. Meine Morgendusche war wohltuend. In die reiseverschwitzten Klamotten vom Vortag zu müssen – unangenehm. Die Kontaktlinsen, über Nacht in den Augen gelassen, sind weiß verschliert. Ein Trockenrasierer beginnt zu surren.
„Komm rein!“
Ich folge dem Ruf. Die komplette Ablagefläche um das Waschbecken ist mit Schminkutensilien bedeckt. Pinsel, Puder, Rouge, Mascara, Eye Shadows, Lippenstifte, Lip Gloss, Highlighter, Concealer – ein wilder Mix teurer Make Up-Produkte. Mehr vermutlich, als ich je überhaupt besessen habe. Farbschlaraffenland. Vermutlich 17,2 Kilo.
„Bedien dich. Ich müsste auch irgendwo eine Foundation in deiner Farbe haben.“

Neugierig schraube ich den YSL-Concealer auf. C legt mir unaufgefordert einen Make Up-Schwamm hin. Während ich etwas unsicher mit den mir fremden Texturen hantiere, verzaubert C sein Gesicht mit wenigen Handgriffen in ein perfekt modelliertes, samtiges Antlitz. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Ich bin es nicht gewöhnt, dass morgens im Bad jemand neben mir steht, wenn ich mich zurecht mache! Schon gar kein sich schminkender Mann.

„Komm mal her!“ C dreht mich zu sich, greift nach dem Kabuki und verschiedenen Stiften. Seine Pinselführung ist rasch. Die Finger agieren flink, aber konzentriert.
„Du brauchst Schimmer. Wenn schon kein Koffer da ist, dann wenigstens Schimmer!“
Schimmer. C malt endlos an meinen Augenbrauen. Die Lippen – Präzisionsarbeit. Das Rouge hat einen leicht vanilligen Duft. Goldstaub tanzt durch die Luft.
Als C mich wieder zum Spiegel dreht, sehe ich selbst durch die milchigen Kontaklinsen, dass ich ein Filmstar bin. Lasziver Blick in muffiger Knitterbluse. Göttinenwimpern. Meine helle Hose hat einen Fleck unterm Knie. Sieht aus wie Schokolade. Hatte ich schon immer so außergewöhnliche Wangenknochen?
C strahlt. „Perfekt, Madame!“

Wir gehen zurück ins Zimmer, C zieht ein Sakko über und holt etwas aus seinem Koffer. Durch die halboffene Schranktür sehe ich ein champagnerfarbenes Paillettenkleid glitzern.
„Brauchst du noch Brüste?“
Ich blicke erschrocken an mir hinab. Verfehle die zwei weichen Silikongelkugeln, die C mir zuwirft.
„Brü…Brüste?“
C lacht.
„Kriegste eh nicht. Sind meine.“
Eine Sekunde lang war mein Gehirn überzeugt, meine seien noch im Koffer in Berlin.

Kinomoment

Einer der Nachteile des Kinos. Während des Abspanns gewährt die Dunkelheit einen zumindest relativ geschützten Raum für die kullernden Tränen. Doch der Moment, in dem das Licht angeht und man grell ausgeleuchtet den Blicken der anderen ausgesetzt ist, kommt unbarmherzig. Also bleibe ich sitzen und gucke einfach auf die Leinwand. Gehe als letzte aus dem Saal. Husche noch einmal auf die Damentoilette, um mein derangiertes Äußeres zu ordnen. Vor dem Kino fällt mir auf: Meine Mütze fehlt! Ich gehe zurück, der Einlass für den nächsten Film hat schon begonnen.

„Ich glaube meine Mütze liegt noch im Saal.“
Der kleine, leicht schiefe, ältere Mann, der die Karten kontrolliert, bedeutet den Menschen hinter mir, dass sie warten müssen. Mit einer weiteren Handbewegung fordert er mich auf zu folgen.Er trägt eine braune Anzughose aus Synthetik. Sie knistert, als er auf dem Teppich durch die Stuhlreihe geht – ohne Zögern exakt zu dem Platz, auf dem ich gesessen habe.
„Meine Herrschaften, darf ich kurz bitten?“ Wieder dirigiert er mit einer Handbewegung. Die Herrschaften stehen auf.
„Würden Sie bitte kontrollieren, ob hier eine Mütze liegt?“ Er sieht mich an:“Sie haben genau hier gesessen, nicht wahr?“
„Ja.“
Die Herrschaften kontrollieren.
„Keine Mütze?“
Kopfschütteln.
Er sieht mich wieder an:“Keine Mütze.“

Wir gehen hinaus.
„Moment!“
Er geht an den Getränkeverkaufstresen, greift eine Mini-Tüte Gummibärchen. Ich denke: „Wie nett!“
Möchte schon die Hand ausstrecken. Doch der Mann steckt die Gummibärchentüte in seine Hosentasche, beginnt mit salzlosem Blick ins Leere die Karten zu kontrollieren und meint:“Fragen sie doch noch mal an der Kasse. So, die nächsten …?“

Ungefähr 50m vom Kino entfernt finde ich meine Mütze. Jemand hat sie auf die Leuchte einer Baustellenabsperrung gesetzt. Am Ende wird eben alles gut.

kino

Zuletzt mit R

Zuletzt mit R.

Die Tür schließt. Im Raum
der letzte Atemzug ist laut,
als bräuchte Wärme einen Klang.
Vorm letzten Lidschlag blitzt der Blick.
Man hält die Hand, das Wort, die Zeit
an.

D sehen

Der Flieger ist verspätet. Ein Kaffee verkürzt die Wartezeit. Diesmal wähle ich Mövenpick. Dort bin ich sonst nie. Tu jeden Tag etwas, wovor du …naja. Ok. Ich habe keine Angst vor Mövenpick. Die kleinen Café-Tische sind alle belegt. Nachdem ich meinen Kaffee auf einem kleinen Silbertablett erhalten habe, steuere ich die hohen Langtische mit den Barhockern an und nehme Platz. Schräg gegenüber sitzt ein Mann in einem sehr blauen Pullover und liest. Ich bastele Milchschaumtürmchen mit dem Löffel. Blicke ins Outlook auf meinem Handy. Mein Tischnachbar schnauft kurz amüsiert in sich hinein. Sein Buch scheint Witz zu haben. Meine E-Mails nicht.

Auf sein Schnaufen folgt ein Glucksen. Dann lacht der Mann laut auf, wobei sich die Lachlaute leiser werdend in einem spitzbübischen Kichern verlieren. In Sekundenbruchteilen durchzucken mich Erinnerungsgefühle. Eine Falltür öffnet sich in tiefste Vergangenheit. Ich sause ungebremst den Schacht hinab, in einen lang beiseitegelegten Moment. Mein Blick friert auf dem Handydisplay ein.

Mein Gott!
Der lacht wie…wie…also, der lacht exakt (wirklich exakt) wie D! Mein Herz liegt klopfend am Boden. Sag, dass es nicht D ist, der dort sitzt! Niemals wird hier in Hamburg, an diesem Holztisch, D sitzen! Einfach so. Mir schräg gegenüber. Mit Kaffee. Bei Mövenpick. Ohne Drehbuch und Hintergrundmusik. Im sehr blauen Pullover. Niemals.
D, den ich zuletzt (mein Gott!) vor 26 Jahren gesehen habe. Oder einigermaßen gesehen habe, weil ich damals vor lauter Heulen gar nichts mehr sehen konnte. Siebeneinhalb Stunden habe ich geheult. Die ganze Zugfahrt nach Hause.
Mein Gott! Wieder das Lachen. Das Lachen. Sein Lachen.
Das Eine.
Etwas in mir fällt zusammen. Mir ist nicht schwindelig, obwohl die Welt wankt. Ich muss ihn angucken. Muss prüfen, dass ich mich irre. Nicht irre. Irre. Nicht irre. Ich hebe sacht den Kopf. „Wirbel für Wirbel nach oben rollen!“, wie die Fitnesstrainer stets anweisen.
Er ist es! Ich sehe es sofort. D!
Unbegreiflich, dass ich es nicht gleich gesehen habe, als mein Blick ihn flüchtig beim Hinsetzen streifte. Er ist es! Als wäre nicht ein Tag vergangen. Nicht eine Minute. Die Haut so ockergolden warm. Die flachsblonden Locken sind angegraut, aber ungezähmt jung. Er trägt noch immer keine Uhr. Der Ring wirkt so überflüssig, wie diese Begegnung.

Ich schaue nicht, ich starre jetzt. Kann nirgends anders hinblicken. Er liest. Lass bloß den Blick im Buch! Lies! Ich muss dies Gesicht mustern, mit angehaltenem Atem. Nicht verstohlen. Aus den Augenwinkeln. Geradeheraus. Ich stöbere mich durch unbekannte Vertiefungen und vertraute Grübchen. Selbst meine Nasenflügel erinnern sich an die seinen.

(Zu googeln warst du nie. Das Netz kennt nichts von Dir. Ich war sogar mal an dem Punkt zu glauben, du hättest niemals existiert. Dagegen spricht die eine Frage, die ich hab immer stellen wollen.)
Die Eine.

Er gluckst. Ich hebe Milchschaum aus der Tasse. Schmeckt süßlich, einen Hauch nach Zimt. Ich trinke in tiefen Zügen die halbe Tasse leer.
Und jetzt? Sag ich: Hallo?
Nach 26 Jahren?
Sag ich: Ach, D! Du hier?
Frag ich: Wohin geht deine Reise, D?
Tipp ich ihm einfach auf die Schulter? Er sieht mich an. Ich schmier ihm eine?
Die Eine.
(Mit Schmackes, wie wir Rheintöchter zu sagen pflegen)

Mein Kaffee ist gleich leer. Letzter Schluck. Bis zum geänderten Gate hab ich von hier aus vier Minuten. Ich stehe auf. Das Herz klopft ruhig wie ein Taktell.

Ich geh.