Stiller Tag

24.12.    Im Frühstückssaal herrscht überschaubare Betriebsamkeit. Familien mit halberwachsenem Nachwuchs. Einige ältere Paare. Keine Schlacht am Buffet. Selbst beim Eierkoch dominiert heiteres Warten durch die Gewissheit, es ist genug für alle da. Die Melodie des letzten Cocktails vom Vorabend schwingt noch leicht aus unter meiner Schädeldecke. Ich transportiere gebratene Tomaten, Röstkartoffeln und ein Stück Räucherforelle an meinen Platz. Dass dazu Kaffee schmeckt, liegt an der Tageszeit und dem Wort Frühstück. Die Frau am Automat nebenan war konsterniert, als ich in meinen Cafe Crema noch einen Espresso fließen ließ. Dabei hatte ich mich einfach verdrückt. Gewollt war extra Milchschaum. Beim Zerteilen der Tomaten schweift mein Blick durch den Raum. Das Ehepaar zwei Tische weiter sitzt nebeneinander. Beide lesen Zeitung. Er bohrt verstohlen in der Nase, hält sich an der Gattinnen-Seite schützend das Feuilleton vors Gesicht. Als er bemerkt, dass ich von der anderen Seite alles sehen kann,  zieht er den Finger aus der Nase, räuspert sich und rutscht auf der Sitzbank hin und her. Am runden Tisch schräg gegenüber fotografiert eine dickliche Blondine erst die Weihnachtsdekoration auf dem Tisch und dann alle (gefüllten) Teller ihrer Begleiter. Nach jedem Foto geht sie einmal um den Tisch und zeigt das abgelichtete Motiv auf dem Display. Nicken. Knurren. Gurren. Alles in allem weht ein leicht russischer Akzent herüber. Eine Lücke zwischen dem augenscheinlichen Tischpatriarch und seinem Sitznachbarn, gibt den Blick auf einen einzelnen Herrn im Hintergrund frei.

Er beißt gerade von seinem Brötchen ab, als ich ihn entdecke. Während er kaut, zieht er die Arme vor seine Brust. Die Hände greifen ineinander. Seine Augen fokussieren das abgelegte Brötchen. Die Kaubewegungen sind intensiv und langsam. An den Schläfen kann ich pulsierende Adern sehen. Bevor er einen Schluck Tee aus dem Glas nimmt, tupft er sich die Lippen mit der Stoffserviette ab. Die Mundwinkel werden dabei gesondert mit einer leichten Wischbewegung bedacht. Die dickliche Blondine fotografiert inzwischen das Birchermüesli auf dem Buffet. Die Glatze des Mannes ist selbstgewählt. Der Pullover zeigt unentschlossenes Grau in leicht filziger Wollqualität. Die kurze Knopfleiste vorne ist bis obenhin geschlossen. Bemerkenswert ist ein Damenring, den er am kleinen Finger links trägt. Ein zierlicher Ring, golden, mit einem rot funkelnden Stein. Die dickliche Blondine fotografiert die Weihnachtsmütze des Eierkochs.

Wenn er die Hände faltet, verschwindet der Ring halb unter den Fingern der anderen Hand. Sechzig wird der Mann sein. Vielleicht auch ein paar Jahre älter. Alte Liebe? Erbstück? Ein Spleen?

Ich stehe auf und gehe Richtung Kaffeestation. Wähle bewusst den Weg an seinem Tisch vorbei. Noch bevor ich da bin, steht er ebenfalls auf. An den Automaten treffen wir aufeinander. Als er nach einem Teeglas auf der Ablage greift, rutscht sein Pulloverärmel leicht nach oben. Eine Tätowierung knapp über dem Handgelenk wird sichtbar. Sie ist seemannsschäbig. Wie selbstgeritzt. Umso überraschender das Wort: Madeleine.

Mein Cafe Crema läuft über den Rand der Espressotasse. Dunkle Flüssigkeit rinnt in Kunststoffritzen. Ich möchte den Vorgang stoppen, drücke reflexfartig erneut auf den Knopf. Eine zweite Portion überflutet das zu klein gewählte Behältnis. Jetzt rinnt es über den Automatenrand hinaus. Meine linke Hand stoppt meine rechte beim Versuch, wieder zu drücken. Der Mann sieht auf mein Kaffeedrama. Er nimmt eine Papierserviette und trocknet den Fluss. Stellt eine Tasse unter den anderen Automaten. Sie füllt sich mit Cafe Crema.
„Danke. Vielen Dank. Wie peinlich.“ Ich habe ebenfalls eine Papierserviette gegriffen und wische umher.

Er reicht mir die Tasse. Sieht zur dicklichen Blondine. Zur Eierkochmütze. Zum Nasenbohrermann. Seine Stimme ist brombeerrau. Beim Sprechen verliert sich das leichte Lächeln.
„Ach was. Niemand ist tot.“

Aber Madeleine! Lang schon.
Der Ring funkelt.

Die Liebe der Anderen

Das schwarze T-Shirt des Body Builders liegt körpernah an. Er ist braungebrannt. Über dem T-Shirt trägt er eine blassblau-graue Wildlederjacke mit blassblau-grauem Lammfellfutter. Sein Gesicht – ein mäanderndes Furchenrelief. In den Augen eine unvermutete Traurigkeit. Vielleicht rasiert er normalerweise den Schädel, zum Zeitpunkt unserer Begegnung innerhalb der FAST LANE am Flughafen, ist sein Haar wenige Milimeter lang und liegt wie ein feines, silbriges Frosting auf dem Kopf. In der Mitte des Hinterkopfs zieht sich eine lange Narbe entlang. Fast von einen Ohr zum anderen. Als sich der Mann zur Seite dreht, um sein Handgepäck auf das Rollband zu packen, sehe ich, dass auch die Seiten des Kopfes lange Narbeneinkerbungen haben. Hat man ihm mal die Schädeldecke abgenommen? Sein T-Shirt rutscht hoch, als er die Jacke auszieht, und gibt eine makellos glatte und unglaublich weich aussehende Rückenhaut preis. Mit Fell hätte er etwas von einem Gorilla. Einem sehr einsamen Gorilla.

Ich höre ein Seufzen vom Rollband rechts von uns. Dort legt gerade eine sehr dünne Frau ihre Tasche in die Plastikkiste. Die streichholzdürren Beine stecken in schwarzen Wollleggins, die bei den Knöcheln in etwas älteren, angewetzen, rosafarbenen UGG-Boots münden. Sie dreht gerade den Kopf wieder weg, als ich hinüberblicke. Oha. Ihr Anorak ist tortengussrosa, mit einer breiten, weißen Plüschfellkrempe an der Kapuze. Das Haar hat eigentümlich ondulierte Locken. Von hinten sieht sie aus wie ein zu groß geratenes Kind, das sich Muttis Zweitfrisur zum Spielen auf den Kopf gezogen hat. Unter dem Anorak baumeln rosa Fransen hervor. Sie zieht ihn aus, ich erwarte ein Quietschgeräusch, aber es raschelt nur zart die Synthetik. Ich weiß nicht, wie klein die Kleidung sein muss, um an diesem Körper körpernah zu sitzen. Sie dreht sich um. Ihr Gesicht ist nicht unbedingt zu alt, aber viel zu müde für all den Plüsch und all die Fransen. Der Bodybuilder und sie treten zeitgleich vor den Bodyscanner. Mit versierter Geste bedeutet er ihr, dass sie den Vortritt hat. Leider stehe ich hinter ihm und kann sein Gesicht nicht sehen. Beide blicken einander an. Fünf Sekunden zu lang, um es bedeutungslos sein zu lassen. Sie nickt schüchtern. Es seufzt aus den Tiefen der herabgezogenen Marionettenfalten.

Der Securitymann winkt sie durch. Es bleibt still. Er winkt den Bodybuilder durch. Es piept. Der wird zur Seite gebeten. Als er die Arme anhebt, damit er abgetastet werden kann, spannt sich das T-Shirt derart, als könne es jeden Moment reißen. Die Plüschfrau und ich halten beide die Luft an. Sie konzentriert sich auf seinen Po. Für einen kurzen Moment beleben sich ihre schlaffen Wangen. Ich entdecke, auf der anderen Seite des Scanners wartend, eine weitere Narbenkerbe breit über seine Stirn gezogen. Ja. Die Schädeldecke muss einfach mal ab gewesen sein. Oder er hat als Kind zu  gern mit dem Dosenöffner gespielt.

Später saßen beide im gleichen Flieger wie ich. Aber ich glaube, es gab kein Happy End.

Mein Koffer in Berlin (2011) – Teil 1

Fortbildung. Oslo. Es ist November. Am Flughafen in Berlin treffe ich C, Visagist und mir bisher unbekannter Kollege. Ich bin etwas aufgeregt. Oslo! Ja, nur das Wochenende. Ja, außerhalb des Hotels werde ich kaum etwas zu sehen bekommen. Aber: OSLO!
Mein Trolley wird gewogen. 6,8 Kilo.
„Kein Handgepäck mehr.“
Ich nicke. Dabei hatte ich mich so bemüht. Der Koffer verschwindet schonungslos im Gepäckschlund am Ende des Rollbands. Winterkleidung wiegt eben. C stellt seinen Trolley auf das Band. 17,2 Kilo. Fasziniert starre ich auf das Gepäckstück, das keinen Zentimeter größer als meines ist. 17,2 Kilo? Was in aller Welt transportiert er?
Ich frage nichts.
Der Flug verläuft unspektakulär. Der Abendhimmel über den Wolken verleiht Cs dunklem Teint einen rosaroten Ton. Der Pilot informiert uns über den Landeanflug.

„Gottlob ist das Wetter hier schön, C!“
„Bettina, wir sind über den Wolken. Da ist das Wetter immer schön.“
Ich schweige betreten.

Das Flugzeug sinkt tiefer und tiefer. Lichter am Boden werden erkennbar. Regen peitscht gegen die Scheiben.
„Verdammt! Regen!“ Cs Blick hat eine panische Note. „Regen! Ich habe keinen Schirm dabei! Meine Haare!“
Meine Mundwinkel zucken unwillkürlich nach oben. C, obwohl in Berlin lebend, trägt hanseatische Herbstuniform: dunkel und gedeckt. In meinem knallroten Mantel und mit meinem orangen Trolley hatte ich auf dem Flughafen neben ihm wie ein Knallbonbon ausgesehen. Seine feine Haut ist besser gepudert als meine. Auf dem Jochbein funkelt zart ein Hauch Goldstaub.
„Meine Haare werden sofort kraus! Unmöglich!“ Er sieht erklärend zu mir herüber. Ich lächle.
„Das kriegen wir schon hin, C!“
20 Minuten warten wir am Kofferband. Alles kommt. Nur mein Koffer nicht.

„I’m sorry, your baggage is still in Berlin Tegel.“ Die im Lächeln ausgebildete Dame am Schalter für verlorenes Gepäck bleibt ungerührt.  C summt Ich hab noch einen Koffer in Berlin.
Mir ist flau. Alles ist in diesem Koffer! Alles! Ich hatte doch gedacht, er geht als Handgepäck durch. Brille…frische Kontaktlinsen…Schminke…Wäsche…ALLES!
„Ich habe, was du brauchst.“ C klopft mir beruhigend auf die Schulter. Er will zum Schirmshop. „Morgen sind die Sachen ja wieder da.“

Unsere Zimmer liegen nebeneinander. 27.Stock. C klopft an und ruft: „Ich hab was zum Abschminken dabei.“ An der Rezeption hatte ich ein Notfall-Tütchen erhalten: Zahnbürste, Zahnpasta, Wattepads, Wattestäbchen und ein Nähset. Ein Nähset. Es beruhigt mich sehr, ein Nähset bei mir zu wissen.
Ich öffne. C, nunmehr mit mit gekräuseltem Haar, reicht mir eine Handvoll Pröbchen. Reinigungsmilch und diverse Cremes verschiedener Marken.
„Holst du mich zum Frühstück ab?“
Ich nicke.

Der nächste Morgen. Um 07:00 klopfe ich bei C. Er öffnet und verschwindet sofort wieder im Bad. Meine Morgendusche war wohltuend. In die reiseverschwitzten Klamotten vom Vortag zu müssen – unangenehm. Die Kontaktlinsen, über Nacht in den Augen gelassen, sind weiß verschliert. Ein Trockenrasierer beginnt zu surren.
„Komm rein!“
Ich folge dem Ruf. Die komplette Ablagefläche um das Waschbecken ist mit Schminkutensilien bedeckt. Pinsel, Puder, Rouge, Mascara, Eye Shadows, Lippenstifte, Lip Gloss, Highlighter, Concealer – ein wilder Mix teurer Make Up-Produkte. Mehr vermutlich, als ich je überhaupt besessen habe. Farbschlaraffenland. Vermutlich 17,2 Kilo.
„Bedien dich. Ich müsste auch irgendwo eine Foundation in deiner Farbe haben.“

Neugierig schraube ich den YSL-Concealer auf. C legt mir unaufgefordert einen Make Up-Schwamm hin. Während ich etwas unsicher mit den mir fremden Texturen hantiere, verzaubert C sein Gesicht mit wenigen Handgriffen in ein perfekt modelliertes, samtiges Antlitz. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Ich bin es nicht gewöhnt, dass morgens im Bad jemand neben mir steht, wenn ich mich zurecht mache! Schon gar kein sich schminkender Mann.

„Komm mal her!“ C dreht mich zu sich, greift nach dem Kabuki und verschiedenen Stiften. Seine Pinselführung ist rasch. Die Finger agieren flink, aber konzentriert.
„Du brauchst Schimmer. Wenn schon kein Koffer da ist, dann wenigstens Schimmer!“
Schimmer. C malt endlos an meinen Augenbrauen. Die Lippen – Präzisionsarbeit. Das Rouge hat einen leicht vanilligen Duft. Goldstaub tanzt durch die Luft.
Als C mich wieder zum Spiegel dreht, sehe ich selbst durch die milchigen Kontaklinsen, dass ich ein Filmstar bin. Lasziver Blick in muffiger Knitterbluse. Göttinenwimpern. Meine helle Hose hat einen Fleck unterm Knie. Sieht aus wie Schokolade. Hatte ich schon immer so außergewöhnliche Wangenknochen?
C strahlt. „Perfekt, Madame!“

Wir gehen zurück ins Zimmer, C zieht ein Sakko über und holt etwas aus seinem Koffer. Durch die halboffene Schranktür sehe ich ein champagnerfarbenes Paillettenkleid glitzern.
„Brauchst du noch Brüste?“
Ich blicke erschrocken an mir hinab. Verfehle die zwei weichen Silikongelkugeln, die C mir zuwirft.
„Brü…Brüste?“
C lacht.
„Kriegste eh nicht. Sind meine.“
Eine Sekunde lang war mein Gehirn überzeugt, meine seien noch im Koffer in Berlin.

Kinomoment

Einer der Nachteile des Kinos. Während des Abspanns gewährt die Dunkelheit einen zumindest relativ geschützten Raum für die kullernden Tränen. Doch der Moment, in dem das Licht angeht und man grell ausgeleuchtet den Blicken der anderen ausgesetzt ist, kommt unbarmherzig. Also bleibe ich sitzen und gucke einfach auf die Leinwand. Gehe als letzte aus dem Saal. Husche noch einmal auf die Damentoilette, um mein derangiertes Äußeres zu ordnen. Vor dem Kino fällt mir auf: Meine Mütze fehlt! Ich gehe zurück, der Einlass für den nächsten Film hat schon begonnen.

„Ich glaube meine Mütze liegt noch im Saal.“
Der kleine, leicht schiefe, ältere Mann, der die Karten kontrolliert, bedeutet den Menschen hinter mir, dass sie warten müssen. Mit einer weiteren Handbewegung fordert er mich auf zu folgen.Er trägt eine braune Anzughose aus Synthetik. Sie knistert, als er auf dem Teppich durch die Stuhlreihe geht – ohne Zögern exakt zu dem Platz, auf dem ich gesessen habe.
„Meine Herrschaften, darf ich kurz bitten?“ Wieder dirigiert er mit einer Handbewegung. Die Herrschaften stehen auf.
„Würden Sie bitte kontrollieren, ob hier eine Mütze liegt?“ Er sieht mich an:“Sie haben genau hier gesessen, nicht wahr?“
„Ja.“
Die Herrschaften kontrollieren.
„Keine Mütze?“
Kopfschütteln.
Er sieht mich wieder an:“Keine Mütze.“

Wir gehen hinaus.
„Moment!“
Er geht an den Getränkeverkaufstresen, greift eine Mini-Tüte Gummibärchen. Ich denke: „Wie nett!“
Möchte schon die Hand ausstrecken. Doch der Mann steckt die Gummibärchentüte in seine Hosentasche, beginnt mit salzlosem Blick ins Leere die Karten zu kontrollieren und meint:“Fragen sie doch noch mal an der Kasse. So, die nächsten …?“

Ungefähr 50m vom Kino entfernt finde ich meine Mütze. Jemand hat sie auf die Leuchte einer Baustellenabsperrung gesetzt. Am Ende wird eben alles gut.

kino

Zuletzt mit R

Zuletzt mit R.

Die Tür schließt. Im Raum
der letzte Atemzug ist laut,
als bräuchte Wärme einen Klang.
Vorm letzten Lidschlag blitzt der Blick.
Man hält die Hand, das Wort, die Zeit
an.