Bikinimoment

Meinen letzten Bikini hatte ich mit zwölf. Vielleicht auch mit acht. Ich glaube auch nicht, dass ich auf meinem Sterbebett gesagt hätte, dass mein bikinifreies Leben Grund zur Reue gewesen wäre. Ich halte mich selten an Stränden auf. Und wenn, dann ist es meist kühl oder ich will ohnehin lieber spazieren oder ich stelle fest, dass ich eh keinen Bikini besitze bzw. besäße ich einen, hätte ich ihn sicher vergessen, weil ich Bikinibesitzen nicht gewöhnt bin. Bikinitragen ja auch nicht.
Trotzdem schlich ich heute durch eine Bademodenabteilung, weil ich das Gefühl nicht los werde, dass ein Bikinimoment in meinem Leben bevorsteht. Eventuell. Möglicherweise. Jedenfalls möchte ich gewappnet sein. Oder einfach mitreden können. Mal was völlig flippiges tun, nech?

Da war sehr viel in neonpink und neongelb und neongrün. Mit Oberteilen so dick gepolstert wie Kopfhörer. Dunkelblau mit Pünktchen und eine schlammgrüne Kollektion mit Glitzerpartikeln. Ich war etwas ratlos. Meine Neonzeit war in den Achtzigern. Pünktchen habe ich selbst genug in Form von Muttermalen und in schlammgrünen Glitzerpartikeln sähe ich aus wie eine Ninja-Turtle auf Disneyspeed. Für Badeshorts bin ich zu unsportlich und für diese putzigen „Schößchen-Höschen“ fehlt mir der Latino-Hüftschwung. Ein Jammer.
Eine Verkäuferin schwebte vorbei, und bevor sie zwischen all dem bunten Lycra verschwinden konnte, fragte ich:
„Entschuldigen Sie, ist das die gesamte Kollektion oder haben Sie noch mehr Auswahl bei Bademoden?“
Sie sah mich an und antwortete:
„Wir haben eine Etage tiefer auch Bademoden für Ältere.“

Ich …
…habe dann einen Hut gekauft. Später.

Vatermoment

Mein Vater war 56 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Da hatte er bereits einen Herzinfarkt und einen Weltkrieg hinter sich.
Er hat mir nie etwas vorgelesen. Oder mir bei den Hausaufgaben geholfen. Die Hitze in Afrika sei schlimmer gewesen, als die Kälte in Russland. Das hat er erzählt. Kinderspiele kannte er nicht. Er hat mich auf den Friedhof mitgenommen, zum Blumengießen. Oder mit an die Tankstelle und in die Waschstraße. Bis heute mag ich grabumrandete Stiefmütterchen und den Geruch von frisch gezapftem Super.
Bei guten Noten sagte er „Du bist eine Eins.“, und bei schlechten „Man kann nicht mehr tun, als man tun kann.“.
Wirklich interessiert hat ihn beides nicht. Er aß klaglos alle Essensreste, die ich auf meinem Teller ließ. Meine Mutter sagte dann: „So lernt sie es nie!“
Er mochte Hausmannskost. Als er dement wurde nur noch Pfannkuchen. Oft fing er unaufgefordert an zu singen. Selbst im Schwimmbad, wo er jeden Morgen seine Bahnen zog. Kaffee mit Milch, ohne Zucker. Bei jedem Frühstück rutschte sein Daumen in die Butter-Marmeladen-Schicht des Brötchens. Trotz Abschleckens blieben immer rote Tupfen am Rand des Politikteils der Tageszeitung.
Wir haben nie viel miteinander geredet. Warum-Fragen konnte er nicht beantworten. Andere hatte ich nicht. Meistens kam er spät nach Hause, wenn ich längst im Bett war. Dann hörte ich die schweren, bemüht leisen Schritte auf der ächzenden Holztreppe. Ich stellte mich schlafend und wartete auf das sachte Öffnen meiner Tür. Nur einen Spalt, damit mich der Lichtkegel nicht erreichte. Drei Atemzüge lang ruhte sein Blick auf dem schlafenden Kind. Es blieb unsere innigste Form der Berührung.

Ab heute: WORTSTRANG

Liebe Menschen im Anderswo,

das Wort und ich sind untrennbar. Nun auch im Blognamen. Die MASKENPAUSE verabschiedet sich und heißt ab heute WORTSTRANG. Der Rest bleibt wie gehabt. Es wird spaziert, gestaunt, geschrieben. Ohne Ole. Vielleicht mit Henk. Immer mit mir.

Einen wunderbaren Sonntagabend für Euch!

Bettina

Wachsen lassen

Ich habe einen Eimer mit
Gefühl ums Haus getragen,
und an der Tanne, gleich beim Zaun,
verbuddelt und vergraben.

Erst grünte Ohnmacht, schließlich Wut.
Seit gestern wachsen Sorgen
wie Bodendecker, unter dem
die Panik bleibt verborgen.

Hier machen nicht mal Käfer Halt.
Selbst Schnecken hasten weiter.
Doch was dort wächst, blüht nicht in mir.
Mich macht mein Garten heiter.

4/18

Samstagsmoment

„Warum gehst du denn nicht hier rüber?“
Die kleine, ältere Dame mit dem rotwangigen Puppengesicht ist deutlich ungehalten. In der hanseatisch-nasalen Sprachmelodie liegt eine ungeduldige Schärfe. Man ist auf dem Weg zum Markt. Die Baumwollbeutel baumeln leer und leicht die Handgelenke hinunter; ihre Hände sind tief in den Jackentaschen vergraben. Graue Locken rollen sich zu einem natürlichen Pelzkranz um den Rand der auberginedunklen Strickhaube. Die Dame steht auf der Straße, aber noch zwischen zwei parkenden Autos. Ihr Mann ist auf dem Gehsteig geblieben, dafür bereits einige Meter weiter gegangen.
„Ja, ja. Geh du mal!“ ruft er, ohne sich umzudrehen. Als Anton und ich ihn passieren, blickt er kurz eindringlich in die trüb-blinden Augen des Hundes, dann in meine und macht einen leichten Schritt seitwärts, um uns Platz zu machen.
„Hier wär doch frei gewesen!“ tönt es verständnislos in meine Richtung.
„Ja, ja!“
Anton bremst beim Baum auf Höhe der Dame ab. Während er schnuppert und mit tänzelnden Pfoten die feuchte Erde bearbeitet, drehe ich mich um. Dabei streift mein Blick eine Fensterbank mit Blumenkasten, in dessen Mitte ein dunkler, schmaler Buddha sitzt. Den Rücken hat er der Straße zugewandt. Was im ersten Moment aussieht wie ein kleiner Rucksack, entpuppt sich als Meisenknödel, der um den Buddhahals hängt.
„Ich bin jetzt drüben!“ lässt die Dame ihren Mann wissen.
„Ja, ja, sei du drüben!“ ist seine launige Antwort. Anton zerrt mich von der buddhistischen Knödelstation weg. Es beginnt leicht zu tröpfeln. Auf der anderen Straßenseite ploppt ein türkisgreller Schirm auf. Die Marktzeit lässt es rege sein auf dem Gehsteig. Väter mit Kind auf den Schultern, Babys in Tragetüchern. Paare händehaltend oder untergehakt. Einkaufszettelstudierende Menschen, deren Nasenrücken sich im nun windigen Sprühregen kräuseln. Ich beschleunige meine Schritte, biege in eine weniger wuselige Seitenstraße ab. Entscheide mich um. Gehe zurück und betrete den Markt. Was habe ich ewig nicht gekauft? Heute ist es dran! Chicorée. Habe ich überhaupt je Chicorée gekauft? Ich nehme drei. Drei, weil Ostern ist. Dreifaltigkeit. Am dritten Tage auferstanden. Drei … fühlt sich jedenfalls richtig an. Zwei Orangen. Etwas Brokkoli. Kohlrabi? Ja, bitte. Unbedingt mit Blattgrün. Natürlich. Das darf ruhig unordentlich aus meinem Rucksack wippen.
„Warum nimmst du denn nicht von da?“
„Ja, ja, lass mich mal!“
Am Stand hinter mir das Ehepaar. Er greift gerade ins Suppengrün. Die Dame testet Avocados. Anton zieht Richtung Fischstand. Ich Richtung Ausgang.

Kurz vor der Haustür biegt ein großer, hünenhafter Mann mit einer Sackkarre um die Ecke. Er führt sie nur mit einer Hand. Sein Gang ist einknickend und hat etwas Schmerzhaftes in sich. Die Strickjacke, vom Sprühregen benetzt, wirkt unangenehm klamm. Unten auf der Sackkarrenablage liegt eine gefüllte Bäckertüte. Keine Brötchen, eher Kuchen. In der freien Hand trägt er eine zweite Bäckertüte. Kein Kuchen, eher Brötchen. Spontan möchte ich ihm einen Meisenknödel um den Hals hängen. Aber Anton zieht mich weiter.
Es ist Samstagmorgen in Eimsbüttel.