Strandmoment

Es ist angenehm leer. Die Strandkörbe warten in Reih und Glied auf den Besucherstrom des Tages. Ich gehe hinab bis zum Meersaum. Meine Zehen kriechen mit Wonne bei jedem Schritt kurz unter den Sand. Zwei Morgenmänner sitzen im Wasser, ihr Lachen schüttern wie das Haar. Immer wieder umspült das Meer meine tastenden Füße. Ich atme ein. Nicht tief, in den Bauch oder die Flanke. Nur ein. Spüre die Freude über diesen Impuls, der das Salz in der Luft bis tief in meinen Körper zieht. Kristallines erinnern.
Sprudelnd weichen die Wellen zurück und hinterlassen mit den Quallen kleine Kunstwerke im Sand.
Obwohl – ein paar von ihnen sehen aus wie angespülte Silikon-Brustimplantate. Mein Aufkichern wird von der mir entgegen kommenden, alten Dame als Aufforderung verstanden:
„Ihnen auch!“, sagt sie, obwohl ich keinen Gruß gesprochen habe. Dabei entlässt ihre Stimme die bauchig-klaren Töne eines Xylophons Richtung Himmel. Hinter den lebensgeschmälerten Lippen reflektieren pralle Kronen wie Gletscher das Sonnenlicht. In ihrem Augenleuchten spiegelt sich die Freude über Butterblumen und gefütterte Enten. Sie mag den ersten Löffel Erdbeermarmelade immer pur, bevor sie einen zweiten auf das Croissant kleckst. Das kleine z schreibt sie noch mit Schlaufe nach unten, weil sie alles was rund ist mag.
Ihre Haut reiht Runzel an Runzel. Tief gebräunt liegt sie als Überwurf auf dem gekrümmten Körper. Einzige Bekleidung ist eine türkise Bikinihose. An die Strandtasche ist ein buntes Tuch gebunden.
Auf einmal verstehe ich nicht mehr, was an diesem alten Körper nicht schön sein sollte. Warum ich selbst es jemals „unschön“ fand, wenn ich sonnengegerbte Haut erblickte. Schon am Tag zuvor war mir diese Kategorie beim Betrachten des Treibens am Strand urplötzlich abhanden gekommen. Ich sah nicht auf Körper, die schön, dünn, muskulös, wabbelig, straff, geformt, faltenlos, geschrumpelt, cellulitefrei oder krampfadergemasert waren. Hässlich oder hübsch. Richtig oder falsch.
Ich sah traurige oder lebendige, gebrochene oder fröhliche, verbitterte oder gelöste, angstbeklemmte oder vertrauensvolle Menschenformen. Fleischgewordenes Gefühl.
„Danke.“ sage ich endlich, aber das nackte Vergnügen ist längst weiter gegangen. Meine Augen verlieren sich in den Details auf dem Boden vor mir. Algenteppiche erschaffen mit dem Umschließen toter Geschöpfe gemäldeartige Kompositionen. Ein Farbrausch, der mit jeder Welle neu zusammengesetzt wird.
Ich bleibe bei den kleinen Buhnenresten stehen, auf deren grünen Frisuren kleine Fliegen hüpfen. Die großen Ausgetrockneten sind gezeiten- und wettergeformt. Unwillkürlich rieche ich an ihnen: algig, hölzern mit zart modriger Note.
Bald wird das Meer die winzigen Schätze, die es im Sand abgelegt hat, wieder mitnehmen. Kindlich stehlen meinen Augen. Ich gehe. Weiter. Weiter. Weiter.
Mein Magen wirft salopp dazwischen, dass ich noch nie ein Bratheringbrötchen gegessen habe. Ich wähle den nächsten Aufgang. Finde ein Brötchen, einen Sitzplatz in den Dünen und schaue den blauen Mustern des Wassers zu. Lange.
Abends erreiche ich Hamburg. Der Sand auf meinen Zehen wird noch auf dem Bahnsteig vom Regen weggespült.

Flashback

Zweimal dreht sich der Schlüssel im Schloss, dann nimmt mich die stille Wohnung auf. Die Tür fällt hinter mir zu, ich lehne mich nicht an sie; werfe Tasche und Jacke auf den Boden, betrete die Küche, schenke hastig und achtlos ein Glas Rotwein ein, das unangerührt auf der Anrichte  bleibt. Gehe wieder hinaus. Hinüber ins abgedunkelte Schreibzimmer. Licht? Keine Musik. Ich bewahre die Dunkelheit und lasse die Rollos unten. Eine Jacke. Die Gänsehaut auf meinen Armen erinnert mich daran, wie sehr ich fröstele. Eine Jacke ist wie keine Umarmung. Ich greife zum Telefon. Henk geht nicht ran.

„Wenn’s dich nicht stört, ich sitz grad am Compi und guck mir Klodeckel an.“ An Suses Stimme erkenne ich, dass sie das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hat.

„Nein. Neinnein. Stört nicht. Klodeckel sind gut.“

Suse lacht: „Ich glaube nicht, dass ich heute einen kaufe. Es treibt mich zu diesen Spaß-Designs. Das bereue ich spätestens in drei Tagen. Aber kann man benutzte Klodeckel zurückgeben?“

Mir fällt keine Antwort ein.

Der Mann im Zug ist nur an mir vorbei gegangen. Mehr nicht. Ich weiß gar nicht, wie er aussah. Da war nur der Duft. Gar nicht lang. Das Parfum. Wie Muränen schossen die Bilder aus der Tiefe in mein Bewusstsein. Ich wollte aufspringen, blieb sitzen. Meine Sitznachbarin sah irritiert auf das niedergedrückte Aufbäumen meines Körpers.

„Ich könnte einen Kompromissdeckel kaufen. Weder weiß, noch Spaßdesign. Dafür in blau-glänzend oder Marmoroptik.“

Ich wiederhole verunglückt sorglos „blauglänzend“ und versuche mich in Suses Bad zu denken. Denke an heißes Wasser auf meiner Haut. Schaum. Abtauchen in den Duft von Fenjala. Wie bei Oma, früher, wenn ich allein in den Ferien dort war und ein „Mäderlbad“ nehmen durfte. Als die Badetücher so groß waren, dass kein Luftzug eine Chance hatte.

Suses Stimme ist weich und gepresst. Manchmal verrutscht sie. Sie weiß, dass ich nie anrufe und plappert. Ich stelle auf Lautsprecher und lege meine Hände auf meine Oberarme. Es wird warm. Die Lichtstreifen neben den Rollos sind verschwunden. Bevor die Fruchtfliegen ertrinken, gehe ich in die Küche und schütte den Wein in den Ausguss. Der Tag ist längst vorbei.

Bikinimoment

Meinen letzten Bikini hatte ich mit zwölf. Vielleicht auch mit acht. Ich glaube auch nicht, dass ich auf meinem Sterbebett gesagt hätte, dass mein bikinifreies Leben Grund zur Reue gewesen wäre. Ich halte mich selten an Stränden auf. Und wenn, dann ist es meist kühl oder ich will ohnehin lieber spazieren oder ich stelle fest, dass ich eh keinen Bikini besitze bzw. besäße ich einen, hätte ich ihn sicher vergessen, weil ich Bikinibesitzen nicht gewöhnt bin. Bikinitragen ja auch nicht.
Trotzdem schlich ich heute durch eine Bademodenabteilung, weil ich das Gefühl nicht los werde, dass ein Bikinimoment in meinem Leben bevorsteht. Eventuell. Möglicherweise. Jedenfalls möchte ich gewappnet sein. Oder einfach mitreden können. Mal was völlig flippiges tun, nech?

Da war sehr viel in neonpink und neongelb und neongrün. Mit Oberteilen so dick gepolstert wie Kopfhörer. Dunkelblau mit Pünktchen und eine schlammgrüne Kollektion mit Glitzerpartikeln. Ich war etwas ratlos. Meine Neonzeit war in den Achtzigern. Pünktchen habe ich selbst genug in Form von Muttermalen und in schlammgrünen Glitzerpartikeln sähe ich aus wie eine Ninja-Turtle auf Disneyspeed. Für Badeshorts bin ich zu unsportlich und für diese putzigen „Schößchen-Höschen“ fehlt mir der Latino-Hüftschwung. Ein Jammer.
Eine Verkäuferin schwebte vorbei, und bevor sie zwischen all dem bunten Lycra verschwinden konnte, fragte ich:
„Entschuldigen Sie, ist das die gesamte Kollektion oder haben Sie noch mehr Auswahl bei Bademoden?“
Sie sah mich an und antwortete:
„Wir haben eine Etage tiefer auch Bademoden für Ältere.“

Ich …
…habe dann einen Hut gekauft. Später.

Vatermoment

Mein Vater war 56 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Da hatte er bereits einen Herzinfarkt und einen Weltkrieg hinter sich.
Er hat mir nie etwas vorgelesen. Oder mir bei den Hausaufgaben geholfen. Die Hitze in Afrika sei schlimmer gewesen, als die Kälte in Russland. Das hat er erzählt. Kinderspiele kannte er nicht. Er hat mich auf den Friedhof mitgenommen, zum Blumengießen. Oder mit an die Tankstelle und in die Waschstraße. Bis heute mag ich grabumrandete Stiefmütterchen und den Geruch von frisch gezapftem Super.
Bei guten Noten sagte er „Du bist eine Eins.“, und bei schlechten „Man kann nicht mehr tun, als man tun kann.“.
Wirklich interessiert hat ihn beides nicht. Er aß klaglos alle Essensreste, die ich auf meinem Teller ließ. Meine Mutter sagte dann: „So lernt sie es nie!“
Er mochte Hausmannskost. Als er dement wurde nur noch Pfannkuchen. Oft fing er unaufgefordert an zu singen. Selbst im Schwimmbad, wo er jeden Morgen seine Bahnen zog. Kaffee mit Milch, ohne Zucker. Bei jedem Frühstück rutschte sein Daumen in die Butter-Marmeladen-Schicht des Brötchens. Trotz Abschleckens blieben immer rote Tupfen am Rand des Politikteils der Tageszeitung.
Wir haben nie viel miteinander geredet. Warum-Fragen konnte er nicht beantworten. Andere hatte ich nicht. Meistens kam er spät nach Hause, wenn ich längst im Bett war. Dann hörte ich die schweren, bemüht leisen Schritte auf der ächzenden Holztreppe. Ich stellte mich schlafend und wartete auf das sachte Öffnen meiner Tür. Nur einen Spalt, damit mich der Lichtkegel nicht erreichte. Drei Atemzüge lang ruhte sein Blick auf dem schlafenden Kind. Es blieb unsere innigste Form der Berührung.