„Ich sehe dich. Und mich. Und keine Lösung.“
Das Wohnheimzimmer roch nach altgewohnten Möbeln und Arztseife. Von draußen schien etwas Licht aus den OP-Sälen des Krankenhauses gegenüber durch den schmalen Schlitz zwischen den zugezogenen Stoffvorhängen. Dunkelgrün, fensterbrettlang, faltenfrei. Im Heizkörper ein leises Wasserspiel, endlos der Kälte Klang gebend. Seine Augen verweilten in Leerstarre, die meinen geschlossen. Eigentlich abgeschmackt. Dieses Zimmer. Diese Umstände. Seine Worte sanken in mich wie frostiger Tau auf eine frisch gepflanzte Wiese.
„Kannst du mir sagen, was das wird? Der Mann ist 15 Jahre älter als du! Glaubst du, der gibt für dich alles auf? Glaubst du das?“ hatte meine Mutter geschrien. Sie, die nie schrie.
„Papa ist 28 Jahre älter als du!“
„Und was ist übrig? Was?“ Ihre Hand sauste knapp an mir vorbei durch die Luft, einen verzweifelten Bogen zeichnend in den Raum.
Ich lief hinaus zum Auto und fuhr zum Krankenhaus. Sah das Licht im Bereitschaftszimmer. Dass ich keine Schuhe anhatte, merkte ich erst beim Aussteigen. Er machte die Tür auf und trat keinen Schritt zur Seite. „Da bist du.“ begann er mit einer Stimme aus Wollfilz, und betrachtete meine nackten, rot gefrorenen Füße.
62 muss er jetzt sein. Ich trage dicke, rote Stricksocken, als ich den Briefumschlag öffne und mich seiner Schrift nähere. 23 Jahre alte Zeilen; Kuli auf recyceltem Notizpapier. Was ist und was nicht geht und nie sein wird. Wer ich bin und er und wir. Dass uns das niemand nehmen kann. Einmal unvernünftig sein.
Ich war nie wieder in Venedig. Am Strand von Vrouwenpolder. Oder barfuß im Schnee. Ich, die nie schrie.