Bowlmoment

Vor den meisten Bowls habe ich Angst.

Sie sehen üppig aus, machen mich am Ende nicht satt und nirgends gibt es Brot dazu (das mich immerhin sättigen könnte). Ich stehe vor dem Bestelltresen und bin überrascht, dass ich – ja, wie nennt man so etwas überhaupt? – das Restaurant, den Imbiss, die Bowleria, den Fresh-Food-Place, den Nahrungsaufnahemmöglichkeitsraum oder wie auch immer, betreten habe. „Bowlmoment“ weiterlesen

Zigarettenmoment

Die Bistrotische sind entlang der Fenster gereiht. Drinnen schafft ein weiches, gelbes Licht behagliche Atmosphäre. Draußen glühen die Heizstrahler unter der Markise, um die kühle Herbstabendluft zu mildern. Am ersten Bistrotisch sitzt ein Mann, kompakt gebaut und schwarz eingehüllt in Sakko, Schal und Stoffhosen. Sein Haar ist sehr grau und sehr kurz, die Nase rund gewölbt wie der Bauch. Vor ihm auf dem Tisch dampft ein Tee, eine Zigarette und ein Rotwein atmet sich aus. „Zigarettenmoment“ weiterlesen

Bodenmoment

Ich möchte zur Isestraße, dort soll heute Flohmarkt sein. Ich schlüpfe in meine Barfußschuhe, male mir den Mund purpurrot, wickle das weiche Lieblingstuch um den Hals und gehe los. In der Osterstraße wird mir bewusst, dass verkaufsoffener Sonntag ist. Reichlich Familien sind unterwegs und „Bodenmoment“ weiterlesen

Moosmoment

45 Minuten Autofahrt. Mir war so dringend nach Wald, tiefem Wald. Natürlich sind die Wege sonntagsbelebt. Kinder springen neben Hunden, Trekkingradler zischen wie Neongeister durchs Gehölz,während Wandergruppen die Ruhe zerplappern, die sie auf ihrem Fußmarsch suchen.
Ich war noch nie hier. Vielleicht werde ich mich verlaufen. Ein ums andere Mal biege ich auf den nächst schmaleren Weg ab, schließlich gehe ich direkt quer ins Gehölz.
Es wird friedlich. Ich hab Barfußschuhe an und ertaste den Boden. Weiche Mooskissen. Feine Steinchen. Reisig überall und trockenes Laub. Die Luft ist noch spätsommerwarm, doch der Herbst ist nicht nur im Fluggeschnatter der Graugänse zugegen, die immer wieder in Formationen, die ich jenseits der Baumkronen nur ahnen kann, über mich hinweg ziehen.
Licht und Schatten bieten ihr unnachahmliches Spiel. Dort, wo die Sonne sich bis zum Boden durchblinzeln kann, setzt sie immer etwas beachtenswertes in Szene, so kommt es mir vor. Baumstümpfe, die wie leergespielte, kleine Waldbühnen nach dem Schlussapplaus wirken. Flirrendes Tümpelwasser auf dessen rostroten Flecken Insekten kleine Kreise auf die Wasseroberfläche surren. Pilzköpfchen mogeln sich ins warme Licht, alles ist silbrig vernetzt mit hauchzarten Spinnfäden. Wie Tätowierungen ruhen Blätterschatten auf den Baumrinden. An manchen perlt Baumharz in glitzernden Sternchen herab.Jetzt ist es wirklich still. Kein Vogel. Dort, wo sich der Wald an kleine, wiesige Felder schmiegt, sind manchmal Feldgrillen zu hören. Winzige, braune Frösche fliehen vor meinen Schritten. Ein großer hält inne und sieht mich kurz an. Dann hüpft er nach links davon. Ich nach rechts. Obwohl nichts blüht, ist alles voll Farben und Formen. Pechschwarze Nacktschnecken kriechen durch die Schluchten des Wurzelwerks umgekippter Bäume. Manchmal höre ich einen Bachlauf.
Es werden dreieinhalb Stunden vergehen.
Als ich die breiten Wege wieder erreiche, steht die Sonne schon tief. Ich schau noch einmal zurück auf die Moosteppiche, die das langsame Verrotten der Baumstümpfe mit ihrem grünen Alles-Ist-Gut überwachsen haben. Ein Wald ist ein Kosmos, keine Kulisse.

Aufräummoment

„Ich sehe dich. Und mich. Und keine Lösung.“

Das Wohnheimzimmer roch nach altgewohnten Möbeln und Arztseife. Von draußen schien etwas Licht aus den OP-Sälen des Krankenhauses gegenüber durch den schmalen Schlitz zwischen den zugezogenen Stoffvorhängen. Dunkelgrün, fensterbrettlang, faltenfrei. Im Heizkörper ein leises Wasserspiel, endlos der Kälte Klang gebend. Seine Augen verweilten in Leerstarre, die meinen geschlossen. Eigentlich abgeschmackt. Dieses Zimmer. Diese Umstände. Seine Worte sanken in mich wie frostiger Tau auf eine frisch gepflanzte Wiese.

„Kannst du mir sagen, was das wird? Der Mann ist 15 Jahre älter als du! Glaubst du, der gibt für dich alles auf? Glaubst du das?“ hatte meine Mutter geschrien. Sie, die nie schrie.
„Papa ist 28 Jahre älter als du!“
„Und was ist übrig? Was?“ Ihre Hand sauste knapp an mir vorbei durch die Luft, einen verzweifelten Bogen zeichnend in den Raum.

Ich lief hinaus zum Auto und fuhr zum Krankenhaus. Sah das Licht im Bereitschaftszimmer. Dass ich keine Schuhe anhatte, merkte ich erst beim Aussteigen. Er machte die Tür auf und trat keinen Schritt zur Seite. „Da bist du.“ begann er mit einer Stimme aus Wollfilz, und betrachtete meine nackten, rot gefrorenen Füße.

62 muss er jetzt sein. Ich trage dicke, rote Stricksocken, als ich den Briefumschlag öffne und mich seiner Schrift nähere. 23 Jahre alte Zeilen; Kuli auf recyceltem Notizpapier. Was ist und was nicht geht und nie sein wird. Wer ich bin und er und wir. Dass uns das niemand nehmen kann. Einmal unvernünftig sein.

Ich war nie wieder in Venedig. Am Strand von Vrouwenpolder. Oder barfuß im Schnee. Ich, die nie schrie.