Schon beim Wachwerden höre ich den Regen. Und die Nachbarn im Flur. Das Wetter vorm Fenster und die Menschen jenseits der Wand verströmen zu gleichen Teilen verbissene Rechthaberei. Ich bleibe liegen und dreh mich auf die Seite. Den Rücken. Die andere Seite. Ich blicke zur Decke und wackle mit den Zehen. Strecke den Großzeh, den Arm und ein Bein. Das wäre der perfekte Moment, um zur Ruhe zu kommen. Einfach nichts tun können, müssen, sollen. Lesen. Ich nehme das Buch. Lege es weg. Kaffee. Kaffee ist gemütlich bei Regen. Ruhig macht er mich nicht. Und eigentlich ist auch nicht der Kaffee gemütlich, sondern der Mandelmilchschaum. Ich tippe mich durch die WhatsApp-Nachrichten der Nacht und des Morgens.
G. schreibt mir, das sei doch das perfekte Wetter, um zur Ruhe zu kommen. „Sei einfach ganz bei dir.“ Bei mir sein. Ich kreisle durch das helle Apartment wie Rilkes Panther durch seinen Käfig. Die Zeit klebt wie kalter Brei auf dem Zifferblatt. Bei mir sein. Wie ist man bei sich? Wie bin ich bei mir? Wie fühlt sich das an? Ich wackle noch einmal mit den Zehen. Strecke die Arme. Nichts davon ist bei mir. Ich geh duschen.
Als das Prasseln der Brause aufhört und ich mich ins dicke Handtuch wickle, nehme ich das veränderte Licht wahr. Der Himmel klart auf. Ich muss raus. Raus. Jeans an, Käppi auf, von der Jacke schließe ich zwei Knöpfe. Zur Sicherheit schnappe ich den kleinen, roten Regenschirm. Nichts ist auf Sylt lächerlicher als ein Regenschirm. Trotzdem. Ich möchte die Wortfetzen der Menschen nicht hören und stöpsle mir Musik in die Ohren. Auf der Straße folgt mein Gang ihrem Takt. Der Panther ist jetzt in meinem Brustkorb. Tausend Stäbe.
Ich gehe einfach. Ziellos zunächst. Biege hier ab und dort. Schaue in Straßen, folge dem Impuls. Wo soll das hinführen? Mein Fuß tritt gegen einen Apfel. Und noch einen. Links und rechts des Durchgangs am Ende der Sackgasse stehen Apfelbäumchen. Die winzigen Äpfel mit ihren roten Bäckchen sehen reif aus. Ich recke mich nach oben und pflücke. Zwei, drei, vier. Ganz bestimmt sind sie sauer. Wurmbewohnt. Zieräpfel oder so etwas. Ich habe wirklich keine Ahnung, beiße in den größten hinein. Süß ist er und fruchtig. Sein Wurm sucht erschrocken das Weite.
In meinen Ohren verstummt Agnes Obel. Niemand außer mir ist auf dem Weg. Die Ohrstöpsel können raus. Der Regen beginnt. Ich packe die Äpfel ein und den Schirm aus. Er ist viel kleiner als ich dachte. Den Rucksack ziehe ich mir vorn über. Meine Füße werden nass, meine Knie, meine Ellenbogen, mein Po. Schirme auf Sylt sind lächerlich. Trotzdem fühle ich mich behütet und gewappnet. Gehe das Feld entlang, erreiche einen Golfplatz. Vor mir klart der Himmel auf, ich sehe Blau und Weiß und gehe nichtsdestotrotz noch immer im Regen, der von den düsteren Wolken hinter mir herüberpeitscht. Wie eine Comicwitzfigur. Der Pessimist mit Privatwolke. Nirgends ein Klo. Büsche, ja, allerdings ohne Schutzfunktion, denn auf der einen Seite ist der Weg, auf der anderen der Golfplatz. Ich entdecke einen Reiterhof und steuere darauf zu. Weil ich so nötig muss, bekomme ich nicht mit, dass der Regen inzwischen aufgehört hat. Bei strahlendem Sonnenschein biege ich mit meinem roten Schirm und nassen Beinen auf den Hof. Vor dem Stall ist der Misthaufen und im Mist steht ein junger Mann mit Bart und Mütze und Latzhose.
„Kann ich bei Ihnen zur Toilette, bitte?“
„In den Stall, links, erste Tür.“
„Danke.“
Jetzt fällt mir der Schirm auf, hastig lasse ich ihn zuschnappen. Der Mistmann sticht die Gabel in braunverklebtes Stroh. Auf dem Klo hängen gestickte Pferdebildchen und ein blaues Handtuch mit Seepferdchen drauf. Alles ist blitzeblank und das Klopapier von Viva Con Agua. Na sowas.
„Ihr habt ja Goldeimer-Papier!“ sage ich zum Mistmann lächelnd, nachdem ich den stillsten Ort im Stall wieder verlassen habe. Er strahlt.
„Natürlich. War alles ok? Müsste frisch geputzt gewesen sein.“
„Ja, vielen Dank. Sie waren meine Rettung!“
„Wenn es nach mir ginge, stünden hier überall Kompostklos in der Landschaft.“ Er sticht in den Mist, hält die beladene Gabel hoch und sagt: „Letztlich ist das pures Gold. Und ob das nun vom Pferd oder vom Mensch kommt….mal ehrlich…?“
Ich spüre den Impuls anzumerken, dass meine persönliche Not rein blasenbedingt war, möchte das Ausscheidungsthema allerdings nicht vertiefen. Der Mistmann klärt mich über Mist und Biogasanlagen auf, sinniert kurz über natürliche Kreisläufe und schließt mit dem Hinweis, dass Morgen der Hofladen geöffnet hat.
„Nur, falls Sie nochmal vorbei kommen.“
„Wer weiß“ sage ich.
Es wird sehr warm in der Sonne. Mein später Spaziergang ist in sinkendes Nachmittagslicht getaucht. Ich sehe Blumen und Gräser und Heidekraut. Sehe Hummeln und Bienen und grünumhäkelte Äste. Bin verzaubert von den Details am Boden und in den Bäumen. Um zu wissen wo ich bin, rufe ich nun doch einmal Google Maps auf. Bis zur Braderuper Heide sind es noch 1,5 Kilometer. Und da ist das Meer. Wattseite. Ich gehe. Kein Panther in meinem Brustkorb. Stäbefrei. Es ist so schön hier. Alles riecht und leuchtet. Und niemand weit und breit. Kleine Wiesenblumen und großer Himmel. Bin ich jetzt bei mir? Ich fühle mich in der Landschaft aufgelöst. Könnte nicht sagen, wo ich aufhöre und sie anfängt. Empfinde nicht mich, sondern sie. Und dann ist da auf einmal die üppig blühende Heide und der Blick auf das blaugrüne Meer.
Der letzte Rest von mir verliert sich. Wird Farbe, ist Stille, trinkt Sonne, schmeckt Salz. Dass jetzt kein Wort nach Bedeutung verlangt, macht mich leicht. Ich gehe lang und kreuz und quer. Noch einmal schlägt der Regen zu. Vehement und verdichtet, mit Wind ohne Klang. Ich werde patschnass in Minuten, nur mein Kopf bleibt geschützt unterm Schirm. Lächerlich. Vorm Meer stehen bunte Menschen. Ich trete den Heimweg an und friere sehr. Ganz bei mir.