Sprühregennebel. Ich gehe schnell. Es ist mir eine Spur zu kühl, um den Fußmarsch nach Hause zu genießen. Dennoch spiele ich mein Lieblingspiel: Gehe einen Weg, den du sonst nicht gehst. Ich komme an kleinen Läden vorbei, deren Auslagen im Dunkel erleuchtet verführerisch wirken. Mein Blick verweilt lang genug: Tagsüber sind sie ohne Magie. Die Weihnachtslichter an den Fenstern schimmern mit Nebelkorona durch kahle, schwarze Baumkronen.
Falsches Schuhwerk. Auf nassen Blättern droht Rutschgefahr. An einer hellen, kleinen Kreuzung trete ich auf die Fahrbahn, trotz roter Fußgängerampel. Nirgends Motorengeräusche. Kein Fahrzeug weit und breit. Ich gehe eine Diagonale zur anderen Straßenseite. Wie ich kurz nach vorne blicke, sehe ich die schnurrbartlose Version von Martin Luther King auf mich zukommen. Der Mann und ich sind unversehens in die klassische Ausweichfalle verstrickt. Jeder von uns macht zeitgleich die Andeutung eines Richtungswechsels – leider immer in dieselbe Richtung. Wir drohen zusammenzuprallen. Stoppen, kurz bevor es passiert. Fast Nase an Nase. Fahrenheit. Der einzige Herrenduft, den ich tatsächlich zweifelsfrei erkenne. Der Nieselregen hat Miniaturperlen auf den grauen Wollschal des Mannes gelegt. Sein Gesicht glänzt.
„Soooooorry.“ Der Wortton vibriert mir in ungeahnter Tiefe entgegen und beginnt zu sinken. Ich spüre seine Schwingung auf meinem Brustbein, bevor er sich, durch meine Lungenbläschen brummend, neben meiner Wirbelsäule durch die Haut wieder ins Freie verflüchtigt.
„Pardon!“ Ich klinge wie eine Nebelmaus.
„Ich gehe links.“ sagt er. Sein Arm deutet an mir vorbei.
Ich nicke. „Okay. Ich bleibe besser stehen, bis Sie vorbei sind.“
Er tritt seitwärts, nickt und geht schweigend weiter.
Ich drehe mich um. Suche in den Pfützen auf dem Asphalt den verlorenen Ton. Alle Wasser sind ruhig. In mir ist es stiller als zuvor.