Er trägt ein dunkles Sakko, weißes Hemd, die ersten zwei Knöpfe davon geöffnet. Modisch farbige Chinos. Die Schuhe hat er kurz bevor er los ging noch poliert. Selbst unter dem Tisch blitzen sie hervor. Das Haar schwarz, leicht gewellt und zurückgekämmt. Immerhin nicht mit Gel, meinem persönlichen Gruselfaktor Nummer eins. Der Look ist matt. Irgendein Wachs wird es sein.
Sie hingegen studentisch leger. Dunkle Skinny-Jeans, grauer und übergroßer Schlabberpulli und Turnschuhe. Nicht Sneaker. Turnschuhe. Die richtigen. Etwas klobigen. Meine Mutter hat mein Schuhwerk gerne danach beurteilt, ob es einen eleganten Fuß macht. Dieses hier unterlässt jegliche Eleganz. Am Fuß. Ihre Hände sind weiß und zart; ordentlich manikürt. Schlammfarbener Nagellack ist zwar inzwischen wieder out, steht ihr aber gut und wirkt hanseatisch fein. Ich sitze schräg hinter ihr, konnte das Gesicht nur kurz sehen, als ich zu dem kleinen, freien Tisch durch ging. Pfirsichhaut, gepudert. Etwas Mascara und ein Hauch von erdigem Lidschatten. Die Lippen vollmundig in ihrem natürlichen Rosé. Ein gut durchbluteter Mensch. Ihr Haar ist blond.
Ich sitze kaum, da wird mir anhand der Gesprächsfetzen, die durch das laute Stimmengewirr des vollen Cafés zu mir durchdringen, bewusst, dass hier an meinem Nebentisch ein erstes Date stattfindet. Ein Tinder-Parship-Elitepartner-Onlineportal-Date. Ein einziger Blick, ein minimales Fühlen in die Atmosphäre, genügt, um zu beiden sagen zu wollen: Kinners, zahlt, geht raus und genießt getrennt die Sonne. Wie lange die beiden hier schon sitzen, weiß ich freilich nicht. Getränke und Kuchen sind noch nicht am Platz, dafür ist man schon mitten im Urlaubsthema angekommen. Florenz mag er. Berge auch. Klar. Und Meer. Er spricht direkt in meine Richtung. Ihre Worte bleiben durch den mir zugewandten Rücken ein Geheimnis für mich.
Vegan ist er nicht, aber manchmal isst er es. Steaks mag er natürlich.
An seinem linken Handgelenk ragt eine überdimensionierte Uhr mit braunem Lederarmband am Hemdsärmel hervor. Auto, Haus und Boot kann man halt so schlecht mitnehmen, selbst wenn sie erst in Planung sind. Am rechten Handgelenk Indianerarmbändchen, die ein wenig verirrt wirken und „Ich bin auch anders!“ sagen möchten.
Zwei winzige Schokoladentörtchen werden serviert, streng gesehen sind es Petit Fours. Ich werde das Gefühl nicht los, ihnen ging ein „Wenn ich dir hier was empfehlen darf …“ voraus. Er hat die Beine parallel gestellt und leicht geöffnet, die Arme auf dem Tisch und ist leicht nach vorn gebeugt. Sie sitzt verschränkt. Kaum ein Lächeln, ein Lacher schon gar nicht. Dafür innerhalb von zehn Minuten fünf Seufzer mit leichtem „Tja“ im Abgang. Er würde sich nie für eine Frau verstellen, sagt er jetzt. Das sei ein No Go. Es sei denn, man wolle gefallen. Also mal bewusst gefallen. Freiheit sei wichtig. Aber für Freiheit in Beziehungen müsse man ordentlich erwachsen sein. „Ordentlich erwachsen“ ist eine Wortkombination, die ich mir sogleich notiere. Einsichtig müsse man sein, sagt er. Sonst funktioniere das alles nicht bei zwei Individuen.
Bei mir wären die Petit Fours in einem Happen weg gewesen. Diese beiden Unvertrauten hingegen trennen mit ihren Gabeln mikroskopische Portionen davon ab.
In den oberen Gesellschaftsschichten sei das Rollenbild ja anders, sagt er nun. Ich muss nicht aufhorchen, weil ich längst horche. Klassischer. Konservativer. Wobei moderne Menschen typische Rollenbilder natürlich nicht mehr leben. Obwohl er das manchmal schön fände. Wenn der Mann so ganz männliche Dinge macht und die Frau so ganz frauliche. Einfach mal so. Zwischendurch. Mit Stil natürlich. Immer mit Stil.
Im Café wird es noch lauter. Zwei Tische weiter hat ein Freundeskreis Platz genommen, in dessen Mitte zwei unglückliche Säuglinge den Zustand der Welt beklagen.
Vom Gespräch erhasche ich nur noch einzelne Wörter. Wenn er lacht, was inzwischen vorkommt, dann nie als Reaktion auf sie, sondern ausschließlich zur Betonung seiner selbst. „Das kann man auch nicht mit jedem machen!“ sagt er mehrfach. An ihrer Stelle hätte ich mir längst eine Sachertorte mit ordentlich Bayrisch Creme als Beilage bestellt. Und einen Likör. Die Säuglinge werden mit in den Mund geschobenen Keksen, an denen sie zuzeln können, ruhig gestellt und so nehme ich mein Horchen wieder auf. Er sagt: „…einzelne Aspekte, die mit dem Biologischen verknüpft sind, sind auch Glücksquellen …“
Den Kontext hätte ich gerne gewusst. Längst müsste ich los, weil ich es sonst nicht mehr pünktlich zum Kino schaffe, aber ich bringe es nicht über mich. Dickköpfigkeit mag er nicht, sagt er. Für Dickköpfigkeit sei er zu naturwissenschaftlich. Dann wird es still. Die Tassen sind leer und ein Verlegenheitsrühren nicht mehr möglich. Ob er sie einladen dürfe? Man geht.
Vor der Tür empfängt mich eisiger Wind, der die Sonnenwärme oben am stahlblauen Himmel behält. Auf dem Boden im braunen Gras suchen Krokusse ihren Platz. Der Frühling kämpft.
Immerhin hier, denke ich. Hier immerhin.