Nun ist der Mittelsitz besetzt. Der Mann ist vielleicht Mitte dreißig. Sehr schmal. Gelocktes Haar, betont wirr. Ein Drei-Tage-Bart mit stoppelfreien Inseln, die eine weißliche Haut freigeben. Natürlich eine Nerd-Brille. Natürlich schmallippig. Strichmund. Phil Collins Lippen. Also keine.
Er riecht nicht gut. Nein, er stinkt nicht. Es ist nicht etwa alter Schweiß oder die Pommes von vorgestern am (natürlich schwarzen) Hemdsärmel. Ich kann ihn einfach nicht riechen. In Internet-Single-Sprache hieße das: wie matchen nicht. Aber sowas von nicht.
Ich rücke ab.
Drücke mich ans Fenster, starre, nein, stiere in meine Zeitschrift. Wir starten. Phil versucht an mir vorbei aus dem Fenster zu blicken. Dabei wippt er hin und her, blickt mal über meine Nase, mal unter meinem Kinn hindurch, reckt sich, duckt sich, streckt sich. Wirklich, ich habe selten das Bedürfnis, einen Uppercut auszuführen. Jetzt habe ich es. Phil wendet sich an den Mann am Gang: “Diese Wolkentürme, das sind Gewitterwolken. Wir müssten jetzt ca. über Geesthacht sein. Da kommt heute noch was runter. Man kann das schön unterscheiden. DAS (zeigt an meinem Hals vorbei) sind noch Cumuluswolken, die hier vorne bereits Cumulonimben. “ Der Mann nickt und antwortet (ich verstehe nicht was, verstehe aber, dass die beiden sich kennen).
Phil ist also so, wie er aussieht: ein Klugscheißer. Auf manchen Flügen hat man eben Pech. Kann ich nun in Ruhe lesen? Phil reckt sich, duckt sich und streckt sich. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob wir die Plätze tauschen sollen. Ich trotze. Uppercutuppercutuppercutuppercut. Ich muss an Kühe in Anbindehaltung denken. Kühe sind wählerisch, mögen nicht neben jedem auf der Weide stehen. Das stresst sie. In Anbindehaltung haben sie keine Chance. Wenn es nicht matcht mit der Nebenkuh – Hölle. UPPERCUT!
Diese Woche habe ich gelernt: Pffffffff ist Medizin. Also atme ich aus. Pfffffffff. Pffffffffff. Pfffffff. Uppercut. Pffffffffff. Pffffffffff. Es wird besser. Phil liest jetzt. Kindle natürlich.
Ich ruckle mich zurecht auf dem Sitz, schiebe meinen Arm leicht an die Lehne. Da passiert es. Meine Armhärchen und Phils Armhärchen berühren sich. Nicht die Haut. Nur die Härchen. Ich möchte den Arm sofort wegziehen, doch ein Impuls hält mich ab. Soll ER doch wegziehen! Mr. Cumulonimbus! Aber Phil bleibt. Ich höre auf zu atmen, in Sorge, die Atembewegung könne doch noch vom Haar- zum Hautkontakt führen. Ich sehe abwechselnd Kühe in Anbindehaltung und Uppercut-Sequenzen. Ich höre elektrisches Zischen. Aggression und Abscheu schaukeln sich ihrem Zenit entgegen. Gleich werde ich aufspringen. Schreien. Mir in Ermangelung eines Gurkenhobels die Haut vom linken Arm kratzen. Bis aufs Blut. Den Knochen. Das Mark! Gleich …gleich … gleich…
„Und da sagen die Leute immer, man passe nicht zu zweit auf so eine Lehne.“ Phil lächelt mich offenen Blicks an. Pfffffffffffff. Schweißperlen tropfen von meiner Stirn. Bemüht lächle ich zurück. Alles Zischen ist weg. Kurz berührt sich die Haut. „Ja.“ Sage ich matt. Entgeistert. Ich rieche nichts mehr. Phil hat eigentlich eine ganz normale Brille auf. Ich ziehe meinen Arm zu mir: „Aber …muss ja nicht.“
„Aber kann.“ Phil bleibt mit dem Ellenbogen auf der Lehne.
Man sagt, wenn Menschen sich lang genug in die Augen gucken, überwindet das jede Antipathie. Ich beginne zu ahnen, forcierter Armhärchenkontakt wurde bisher zur Überwindung zwischenmenschlicher Dissonanzen unterschätzt.
Mein Herz schlägt spürbar, schneller, stärker.
Ich habe mit gelitten,
den UPPERCUT gesehen und
mich gefreut, dass endlich, endlich mal jemand …
und dann blizzeln da so Armhärchen dazwischen?
Wohin soll ich jetzt bitte mit MEINEM Adrenalin?
Bleibt wohl nur weg-Pffffff-ten.
Mein Sitznachbar verhält sich jetzt anders.
Er denkt wahrscheinlich, er sitzt jetzt neben einer defekten Dampflok. Da, seine Faust zuckt. Ob er an einen UPPERCUT denkt???