Kastagnettenmoment

Dummerweise habe ich die Sonnenbrille in meine Tasche gepackt. Auf dem Fahrrad piekst mich der rasche Lichtwechsel unter den mal mehr, mal weniger dicht belaubten Bäumen unangenehm in den Augen. Ich überlege anzuhalten, entscheide mich dagegen. Endlich eine rote Ampel. Ich greife in den Korb vor mir, wühle mich mit den Fingen durch die Tasche, vorbei an Handcreme, Handy, Geldbörse, etwas undefinierbar Kunststofflichem, Bonbons, Stiftemäppchen, Notizbuch und Kopfhörerkabel. Die Brille ist nicht zu tasten. Dass ich den Schlüsselbund nicht klimpern höre, irritiert mich gleichfalls. Es wird grün. Halb Hamburg ist mit dem Rad auf dem Heimweg; jede Zehntelsekunde Zögern könnte einen Shitstorm an der Ampel auslösen. Ich trete in die Pedale und weiter geht es. Mit Unbehagen wegen der unerfühlten Brille und dem Schweigen der Schlüssel, temmle ich die Osterstraße hoch. Erdbeeren!

Ich wollte doch noch Erdbeeren. Vielleicht ist der Schlüssel in die Seitentasche gerutscht? Aber da hätte er auch klimpern können. Und wenn die Brille noch im Cafe auf dem Tisch liegt? Nee. Was ist nur dieses Kunststoffding? Ich schaffe es bei Gelb über eine Kreuzung und ärgere mich sofort ob der verpassten Wühlgelegenheit. Reflexartig drehe ich mich um, so als ob Zurückkehren zur Ampel eine Option darstellen würde. Ich muss über mich selbst grinsen; mein Kopf dreht sich wieder in Fahrtrichtung, die Augen streifen dabei ein Litfaßsäulenplakat. Roland Kaiser im Stadtpark. Roland Kaiser hat also auch schon eine Coverband? Krass. Wer geht zu einer Roland Kaiser Coverband? Und wie lang ist er überhaupt schon tot? Ich sehe unvermutet einen Erdbeerstand auf der linken Straßenseite. Erdbeeren! Die wollte ich doch! Schon aber bin ich vorbei am Stand. Drossle das Tempo. Ah. Da vorne der Kreisel. Da kann ich geschmeidig wenden. Ist Roland Kaiser überhaupt tot? Ich scanne gedanklich die bewusst wahrgenommenen Todesmitteilungen des letzten Jahres. Vorjahres. Vorvorjahres. Lenke das Rad von der Straße weg auf den Fußweg, um gleich vorm Erdbeerstand zu halten. Nee, Roland Kaiser ist gar nicht tot. Das ist gar kein Coverkonzert! Das ist er selbst! Oder … doch … nicht? Plötzlich ist direkt vor mir der Erdbeerstand. Ich bediene Rücktritt und Handbremse gleichzeitig mit voller Wucht und komme derart unversehens und radikal zum Stehen, dass ich fast über den Lenker hinweg in die Erdbeeren fliege. Der Erdbeermann macht eine leichte Andeutung mit dem Oberkörper in Deckung zu gehen.
„Na, Sie haben aber nen Zahn drauf!“
Gottlob lacht er.
„Ja. Ich. Oh.“
Mein Bein ist unglücklich auf dem Boden aufgekommen und pocht nun im Vorfuß. Ich stelle das Rad ab und wackle an die Auslage.
„Schöne Erdbeeren! Ist Roland Kaiser eigentlich tot?“
Der Erdbeermann, der eben noch fröhlich zur 500g Schale greifen wollte, sieht mich konsterniert an. „Wie kommen Sie denn auf Roland Kaiser? Der ist nicht tot. Denk ich. Da ist doch so ein anderer gestorben dieser Tage. Aber nicht der Kaiser. Der hat hier Open Air gesungen.“
„Also keine Coverband? Waren Sie dort?“
„Nee. Nicht meine Musik. 500g?“
„Ja, 500g. Und wer ist gestorben?“
„Ich weiß nicht, wie diese Schlagermenschen alle heißen.“
„Aber den Kaiser kennen sie.“
„Und den Carpendale. Aber der ist auch nicht tot, falls Ihnen die Frage auf der Zunge lag.“
Lag sie nicht. Aber das sage ich nicht. Der Erdbeermann wickelt eine Tüte um die Schale.
„Die…das…brauch ich gar nicht.“
„Nun ist se drum.“
Ich zahle. Stecke die Erdbeeren in die Tasche. Dabei klimpert der Schlüssel. Ich greife nach ihm und ertaste dabei die Sonnenbrille. Ziehe sie heraus und setze sie auf. Später zuhause entdecke ich beim Auspacken, dass das undefinierbare Kunststoffding eine Haarklammer ist, die ich irgendwann einmal gekauft und in der Tasche vergessen hatte. Ich nasche die Erdbeeren stehend am Küchenbuffet.
„Wusstest du, dass Roland Kaiser noch lebt?“ texte ich via WhatsApp an Henk und ebenfalls an meine Freundin Hanne. Diese schreibt in Sekundenschnelle zurück: „Der Versicherungstyp? War der denn echt? Oder meinst du den Drews?“
Hoffnungslos.

Henk lässt sich Zeit.
Dann eine Sprachnachricht. Ich drücke auf abspielen und höre das kurze, eifrige Klackern von Kastagnetten. Ich schätze das war ein Nicken.

6 Antworten auf „Kastagnettenmoment“

    1. Liebsten Dank ?
      Unfassbar, wie oft ich mich in derartigen Gedankengängen wiederfinde ?
      Letzens hab ich..ach, egal jetzt.
      Die Frage bzgl.R.Kaiser hab ich mir auch oft gestellt.
      Das war so ne „Familienfraktion „.
      Mutter & Schwester für R.Kaiser und ich für Thommy( richtig geschrieben?) Steiner.
      Ob der noch lebt, weiss ich auch nicht.

      Jedenfalls musste ich für Omas Geburtstag und Firmenjubiläum , echt mal Roland Kaiser „singen“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert