Fingerabdruck

Liebe sei die schlimmste Religion von allen, sagte Marie.
„Guck sie doch alle an. Wie sie hörig sind. Nach dieser Besoffenheit suchen. Irgendwen brauchen. Ohne mich!“
Das Wort „Besoffenheit“ im Zusammenhang mit Liebe verstörte mich. Aber das tat Maries abgeklärte Art insgesamt. „Du musst endlich kapieren, dass dein Herz nur ein Muskel ist.“ Wir waren noch nicht 15. Ich spielte, natürlich heimlich und im vollen Bewusstsein der altersgemäßen Unsäglichkeit, manchmal noch mit Barbie-Puppen. Liebe kannte ich aus Filmen mit Cary Grant. Verliebtheit durch meine unglücklichen Schwärmereien für Jungs, die mich nicht sahen. Jungs sahen Marie. Marie rauchte. Hatte einen fuchsiafarbenen Lippenstift, den sie auf dem Weg zur Schule im Bus auftrug und der manchmal nach der zweiten großen Pause leicht verwischt war.

Ihre Haut entsprach vollkommen dem Pfirsichklischee. Wenn sie im Sportunterricht schwitzte und Tropfen von den Schläfen über die prallen Wangen liefen, hatte ich stets das Wort „Pflücken“ im Kopf. Maries Wangen waren für mich das Sinnbild vollendeter Schönheit. Die meinen hingegen eine Brutstätte beulenartiger, konfluierender Pusteln. Erfolglos überschminkt: Rote Beulen zu beigen Beulen.
„Du bist auch schön.“ sagte Marie manchmal. „Anders halt.“
Dann sog sie tief an der Zigarette und tat so, als blase sie Kringel in die Luft. Sie sagte mir nie, dass ich auch eine Kippe nehmen soll. Mit Marie durfte ich nach Köln zum Konzert von Spandau Ballett. Mit Marie sah ich TOP GUN im Kino. Wer angesagt war, schwärmte für Tom Cruise. Ich war nicht angesagt. Val Kilmer, der ging. Zweite Geige.Tatsächlich schwärmte ich innig (und nebenbei bemerkt viele Jahre lang) für Willem Dafoe aus „Platoon“, aber für den schwärmte man nicht.
„Auf Dafoe stehen ist doch ok.“ sagte Marie. „Anders halt.“

Einmal klatschte mir im Sportunterricht der Ball auf meine rechte Gesichtsseite. Dass sich das dicke Brillengestell schmerzvoll in mein Jochbein drückte, war unschön, aber zu verkraften. Grauenvoll hingegen zu spüren, dass durch die Wucht mehrere Pusteln aufplatzten, die sich schon den Vormittag über durch aufsteigendes Pulsieren bemerkbar gemacht hatten. Ich fühlte eine warme Flüssigkeit die Wange hinab rinnen und legte reflexartig die Hand darauf. Zu spät.
„Ihhh, voll eeeeeklig.“  Swantje lenkte mit einem theatralischen Fluchtsprung aller Augen Spott zu mir.
Ich rannte in die Umkleide. Kein Blick in den Spiegel, nur in die Hand. Blut und Eiter. Keine Tränen. Scham rinnt nach innen. Dann Marie, die mir ungefragt eines der grauen, rauen Papiertücher aus dem Waschraum ins Gesicht drückte, nachdem sie mich in eine Toilettenkabine gezogen und hinter uns abgesperrt hatte. Minutenlang und still. Mit der Kuppe ihres Ringfingers tupfte sie sachte auf die wenigen aknefreien Hautstellen. Drei, vier, fünf Mal. „Ganz weich!“ sagte sie. Ich sagte: „Anders halt.“ und wir lachten.

Maries Herz schlug noch 12 Jahre. Es hat nie gewusst, dass es ein Muskel ist.

3 Antworten auf „Fingerabdruck“

  1. Wunderschön geschrieben.
    Ich mag deine Art, wie du über Menschen schreibst, die in deinem Leben waren und die du nie vergisst.
    Und Marie war besonders. Und noch so jung.
    Tränchen..vergiesse ich jetzt wieder – ich bin da sehr sentimental.
    Ich schäme mich auch oft, dass ich das Leben nicht wertschätze.
    Du , erinnerst mich manchmal daran ❤
    Dankeschön.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert