Es war in meinem ersten Jahr als frisch ausgebildete Kosmetikerin. Ich war 24 Jahre alt.
„Meine Mutter war noch nie bei der Kosmetik! Meine Mutter hat noch nie einen Lippenstift benutzt. Oder Wimperntusche. In ihrem Bad steht eine Dose Pferdesalbe. Nur, damit Sie wissen, was auf sie zukommt, Frau Strang.“ Mit diesen Worten orderte die Tochter von Frau T. bei mir einen Gutschein. „Packen Sie alles rein! Alles! Das volle Programm. Mein Vater wollte nie, dass meine Mutter etwas für sich macht. Oder aus sich. Vor acht Wochen ist er gestorben. Und jetzt soll sie alles einmal genießen dürfen!“
Frau T. kam an einem Donnerstagnachmittag. Eine kleine Frau mit osteoporosegebeugtem Rücken. Dünn, dennoch eigentümlich stabil wirkend. Die graue, überaus welke Haut ging fast unbemerkt über in das gleichgraue, wellige Haar. Kleine Augen, die sich schon vor längerer Zeit zurückgezogen hatten in den Schutz tiefer Augenhöhlen. Der Blick aber so klar wie ein Bergsee. Frau T. begegnete meiner lächelnden Begrüßung mit schweigendem Kopfnicken. Ihre Gesichtszüge verrieten ein Leben, das allen Höhen und Tiefen mit stoischer Akzeptanz begegnet war. Gerade Lippen, nicht schmal gepresst, doch bar jeder Sinnlichkeit. Lange Furchen, die ausgeprägte Gräben durch das gesamte Antlitz zogen. Nirgends aber Harm im Ausdruck. Der krumme Rücken änderte nichts an ihrer geraden Ausstrahlung.
Schließlich blickte sie mich an und sagte: „Guten Tag.“
Ich führte sie in den Behandlungsraum, ließ sie Platz nehmen und fragte nach ihren Wünschen für den heutigen Termin. „Wünsche? Ach Kind, Wünsche!“ Frau T. stand ruckartig auf. „Fangen Sie einfach an.“
Es war eine schweigende Behandlung. Frau T. würde ein klassischer Gutschein-One-Shot sein. Zwar erklärte ich vorab, was ich tun würde und erläuterte kurz den einen oder anderen Ablauf, doch der Großteil blieb achtsames Tasten. Das volle Programm. Reinigung, Peeling, Augenbrauen korrigieren, Augenbrauen färben, Wimpern färben, Ultraschall, Maske, Massage, Maniküre mit Lackieren, Make Up.
Frau T. stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Eingehend. Sie trat vor. Sie trat zurück.
„89.“
„89?“
„Ich bin 89.“
„Erkennen Sie sich noch?“ Ich lächelte leicht unsicher.
„Ich erkenne mich sehr gut. Ich erkenne mich sehr, sehr gut.“ Sie blickte auf die azaleefarbenen Fingernägel: „Ungeläufig!“
Ich schwieg verdattert.
Frau T. drehte sich zu mir um, die Mundwinkel kaum merklich angehoben. Sie sah auf meinen Kittel, hob ihren Arm und legte mir die Hand auf die Wange: „Engel sind immer weiß. Den Lippenstift möchte ich gerne haben. Und diesen Nagellack. Und dieses…dieses…wie nannten Sie es?“ – „Liposomenkonzentrat.“ – „Genau.“
Ungefähr einen Monat später erhielt ich Post. Eine Todesanzeige. Beigefügt die folgenden Zeilen:
„Liebe Frau Strang, letzte Woche hatte meine Mutter einen Hirnschlag und ist nach zwei Tagen Koma verstorben. Sie hat jeden Tag den Lippenstift getragen. Noch drei Tage vor dem Schlag ging sie zum Friseur und hat sich die Haare silbrig tönen lassen. Meine Traurigkeit ist unendlich.
Ihre Beate P.
PS: Den Lippenstift bekommt sie mit auf Ihre Reise“
Schluchz, heul. So schoen, so wahr!
Ach was für eine wunderschône Geschichte, wenn auch mit einem traurigen Ende. Aber wie wertschätzend, das du diese Post erhalten hast
Ja. Das empfinde ich ebenfalls.
Es hat mich mal wieder erwischt.
Erst lese ich „Unvergessen“, die Tränen rollen, das Herz ist tief berührt.
Dann die Flucht nach vorn – hierher.
Und dann?
Mehr Tränen, das Herz leidet Wehmut und spürt Tiefe.
Danke für diese wunderbaren Geschichten des Lebens.
find ich auch. Sehr schön ❤